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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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manchmal was rausfällt! Ich bin nicht freiwillig dumm oder weil ich nicht lerne!«
    »Hey, ich —«
    »Aber du bist ja wohl eins von den Superhirnen, die alles wissen und dauernd mit irgendwas angeben müssen, weil sich nämlich sonst keiner für sie interessiert, außer wenn sie im Fernsehen Geige spielen!«
    Es ist total peinlich, aber wenn ich mich heftig über etwas aufrege, zum Beispiel Ungerechtigkeit, fange ich an zu heulen. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. Der Junge kriegte ganz erschreckte Augen unter seinem Sturzhelm.
    »Jetzt wein doch nicht! Ich hab das gar nicht so -«
    »Außerdem weiß ich, was 'ne Primzahl ist!«, brüllte ich.
    Was vor lauter Aufregung im Moment so ziemlich das Einzige war, das ich noch wusste. Jetzt sagte der Junge gar nichts mehr. Er guckte runter auf seine Sandalen. Dann guckte er wieder hoch. Seine Lippen waren ganz dünn geworden. Er streckte eine Hand aus. Sie war so klein, dass sie doppelt in meine passte.
    »Ich heiße Oskar«, sagte er. »Und ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich hätte mich nicht über dich lustig machen dürfen. Das war arrogant.«
    Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem letzten Wort meinte, aber die Entschuldigung hatte ich verstanden.

    Man muss nett sein, wenn jemand sich entschuldigt. Wenn einer nur so tut als ob, kann man ruhig weiter sauer sein, aber Oskar meinte es aufrichtig. Hatte er ja gesagt.
    »Ich heiße Rico«, sagte ich und schüttelte seine Hand. »Mein Vater war nämlich Italiener.«
    »Ist er tot?«
    »Logisch. Sonst hätte ich ja nicht war gesagt.« Der Wehmeyer hat gesagt, eine meiner Stärken beim Schreiben von Aufsätzen wären die Zeiten, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die So-als-ob-Zeit.
    »Tut mir leid. Wie ist er denn gestorben?«
    Ich gab keine Antwort. Ich hab noch nie jemandem davon erzählt, wie Papa gestorben ist. Das geht keinen was an. Es ist eine sehr traurige Geschichte. Ich zog die Nase hoch, guckte über den Zaun auf den Spielplatz und versuchte, an was anderes zu denken. Zum Beispiel, ob dort auch Schippen und Förmchen und Siebe und so weiter vergraben waren, und wenn ja, wie viele und in welchen Farben. Bestimmt waren es hunderte. Wenn ich sie alle ausgrub, konnte Mama sie bei eBay versteigern, zusammen mit ihren Handtaschen.
    Oskar druckste ein bisschen herum, als er merkte, dass da nichts mehr kam. Irgendwann nickte er endlich und sagte: »Ich muss jetzt nach Hause.«
    »Ich auch. Sonst schmilzt die Butter.« Ich hob die Einkaufstasche hoch. Und dann, weil er so ordentlich aussah in seinen komischen Klamotten, wie eins von diesen Kindern, die dauernd Gemüse und Obst und zuckerfreies Müsli aus dem Bioladen essen müssen, sagte ich: »Unsere Butter war alle, weil es bei uns heute Mittag Fischstäbchen mit Blutmatsche gab.«
    Ich ging und nahm mir vor, mich kein einziges Mal umzudrehen. Der sollte bloß nicht denken, dass ich ihn toll fand mit seinem Sturzhelm und den Monsterzähnen. Dann drehte ich mich doch um und sah ihn in die andere Richtung in der Dieffe verschwinden. Von Weitem sah er aus wie ein sehr kleines Kind mit einem sehr großen blauen Kopf.
    Erst als ich wieder zu Hause war, die Butter in den Kühlschrank geräumt hatte und anfing, mit einem Messer das Eisfach auszukratzen, fiel mir ein, dass ich Oskar gar nicht gefragt hatte, w as er mutterseelenallein hier im Kiez zu suchen hatte. Oder was das kleine knallrote Flugzeug an seinem Hemd bedeutete. Und warum er einen Sturzhelm für Motorradfahrer trug, obwohl er zu Fuß unterwegs war.

    Frau Dahlings Locken waren ganz hübsch geworden. Ich drückte ihr die Salzstangen in die Hand, als sie mich einließ. Durch die offene Wohnzimmertür fiel rotgoldenes Abendlicht bis in den Flur. Da hängen überall kleine Bildchen in Plastikrahmen an den Wänden, meistens mit gezeichneten kleinen Kindern drauf, die ganz große Augen haben und zum Beispiel vor dem Eiffelturm stehen oder auf einer Brücke in Venedig. Es gibt auch Bilder mit Clowns und dergleichen drauf, von denen die Hälfte heult. Ziemlich kitschig.
    »Mir geht's nicht wirklich gut, Schätzchen«, sagte Frau Dahling und machte die Wohnungstür zu. »Ich hab so ein graues Gefühl.«
    Fast hätte ich gejuchzt. Ein graues Gefühl bedeutet, dass wir keinen Liebesfilm gucken. Ich habe nichts gegen Liebesfilme, aber sie machen mich manchmal ein bisschen nervös. Es gibt keinen einzigen Liebesfilm über tiefbegabte Menschen, als würden die niemanden finden zum
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