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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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wäre ein Weichei. Manchmal glaube ich, hinter den Schatten in der Bonhöfer-Wohnung noch tiefere Schatten zu sehen, die durch die leeren Zimmer huschen. Ich weiß zwar, dass ich mir die Tieferschatten nur einbilde, aber das macht die Sache nicht leichter. Vor allem dann nicht, wenn man mal dringend aufs Klo muss, sich aber nicht traut aufzustehen — und ich hab mich noch nie getraut, wenn Mama nachts auf Arbeit ist und ich allein in der Wohnung bin. Ich hab schon seit ein paar Jahren nicht mehr in die Hose gemacht, so wie früher. Aber ich weiß genau: Wenn ich den Tieferschatten länger als eine Minute beim Herumhuschen zusehe, ist es wieder so weit. Deshalb ziehe ich mir vor dem Einschlafen meistens die Decke über den Kopf.
    Heute auch.
    Unter der Decke dachte ich noch an Oskar und daran, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Dann schlief ich ein.

SONNTAG
    DAS FERIENTAGEBUCH

    Nun hab ich fast den kompletten Sonntag gebraucht, um den Samstag aufzuschreiben. Das ist okay, ich hatte meine Ruhe, weil Mama den ganzen Tag schlief An den Wochenenden bleibt sie noch länger im Club als sonst. Sie ist erst morgens gegen zehn nach Hause gekommen und sofort ins Bett gefallen. Weshalb sie auch nicht mitgekriegt hat, dass ich den ganzen Tag am Computer gesessen habe. Falls mein Experiment schiefgeht, ist sie dann am Schluss wenigstens nicht enttäuscht.
    Die Schreiberei ist eine Idee vom Wehmeyer. Das war der Grund dafür, dass ich am Samstag noch mal bei ihm antanzen sollte, obwohl eigentlich schon Ferien waren. Es ging um einen Aufsatz über den Landwehrkanal, den ich vor zwei Wochen geschrieben hatte. Der hatte den Wehmeyer schwer beeindruckt, deshalb wollte er noch mal mit mir darüber reden.
    »Deine Rechtschreibung zieht einem zwar die Schuhe aus, Rico«, sagte er. »Aber wie du schreibst, das hat schon was. Du bist ein guter Erzähler ... wenn man die längere Abschweifung mal außer Acht lässt. Weißt schon - die mit der Nordsee.«
    Der Landwehrkanal fließt praktisch direkt hinter der Dieffe 93 vorbei. Man kann da prima am Ufer sitzen, unter den schönen Trauerweiden oder einfach im Gras, zwischen vielen anderen Leuten. Man kann aufs glänzende Wasser gucken oder die darauf paddelnden Schwäne ärgern. Ab und zu fährt ein Dampfer vorbei mit Touristen, denen kann man zuwinken. Die winken dann immer so begeistert zurück, als hätten sie noch nie im Leben einen Jungen an einem Ufer sitzen sehen. Steht alles drin in dem Aufsatz.
    Mit den Abschweifungen meinte der Wehmeyer ausgerechnet meine Lieblingsstelle, als ich mir vorgestellt hatte, wie man sich als Wasserleiche in so einem Kanal fühlt. Es ist Winter und man ist gerade ins Eis eingebrochen. Die Strömung trägt einen unter dem blauschwarzen Eis vom Landwehrkar al in die Spree. Ich hatte mir vorher auf der Deutschlandkarte angeguckt, wie es dann weitergeht: Die Spree fließt in die Havel und die Havel fließt in die Elbe und die Elbe fließt in die Nordsee und die Nordsee gehört zum Atlantik. Man hat also richtig was davon, wenn man im Landwehrkanal ertrinkt, nämlich eine tolle Reise durch drei Flüsse und am Schluss den Ozean, außer natürlich, man gerät unterwegs in eine Schiffsschraube, die einen völlig zerrunkelt, das wäre ärgerlich.
    Der Wehmeyer guckte ganz listig. »Interessierst du dich für Mister 2000? Macht dir das Angst, diese Sache mit den Entführungen?«
    Es ging also um die zerrunkelte Wasserleiche. Ich schüttelte den Kopf. Beim Schreiben hatte ich an jemand anderen gedacht, nicht an den ALDI-Entführer, aber das ging den Wehmeyer nichts an.
    Er nickte und guckte an die Wand mit den vielen Bildern von seinen Kindern und seiner Frau und seinem Hund und dem Motorrad, das längst nicht so schön ist wie das von Berts.
    »Ich hab mir Folgendes überlegt«, sagte er. »Was würdest du davon halten, so eine Art Tagebuch zu fuhren? Uber deine Erlebnisse in den Ferien? Was du so denkst, was du so alles machst ... Fahrt ihr in Urlaub, du und deine Mutter?«
    »Nein. Ist das 'ne Hausaufgabe?«
    »Sagen wir mal: Wenn du es wirklich versuchst, erlasse ich dir dafür nach den Ferien ein paar andere Hausaufgaben.«
    Das klang gut.
    »Wie viel soll denn drinstehen?«
    »Sagen wir mal ... ab zehn Seiten bin ich zufrieden. Ab zwanzig gibts einen Bonus.«
    »Was ist das?«
    »Eine zusätzliche Belohnung.«
    Das klang noch besser. Trotzdem war mir nicht ganz wohl dabei. Zwanzig Seiten waren ziemlich viel.
    »Und die Rechtschreibfehler?«, sagte ich
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