Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
Vom Netzwerk:
Kraft und Zorn. Ich legte Oskar schützend meine Hände um den Kopf, zog meinen eigenen zwischen die Schultern und starrte dem Marrak fest in die Augen. Leider beherrschen Mama und Oskar diesen Trick irgendwie besser als ich. Er funktionierte überhaupt nicht.
    Das Letzte, was ich hörte, war ein unmenschliches Brül len. Das Letzte, was ich sah, waren zwei Dinge, die vom Himmel runterkamen, eins über mir und das andere über dem Marrak. Was über mir runterkam, war Marraks geballte Faust. Er traf mich damit voll an die rechte Schläfe, und während ich langsam umkippte und mir schwarz vor Augen wurde, verzog der Marrak völlig verblüfft das Gesicht, griff sich an die blutende Stirn und kippte ebenfalls um.

    Millionen Jahre später kam ich wieder zu mir. Ich wurde durch den Hausflur getragen. Ich guckte hoch und sah das Gesicht vom Bühl, der mich in seinen Armen hielt. Jemand drückte die Haustür auf, wahrscheinlich der Mommsen. Jemand schluchzte, wahrscheinlich Frau Dahling. Jemand plapperte aufgeregt irgendetwas, wahrscheinlich Oskar. Flackerndes rotes Licht erhellte die Straße vor der Dieffe 93, aber ich guckte immer noch rauf zum Bühl. Es war wie im Traum, ich hörte mein eigenes, kaum hörbares Flüstern, und der Bühl drückte mich fest an seine Brust und er verstand jedes Wort.
    »Eines Tages fuhr mein Papa mit Freunden in einem Boot raus, vor die Küste von Neapel. Es war ein stürmischer Herbsttag. Die Wellen wogten hoch und schwarz, und wei- ßer Schaum tanzte auf ihren Kronen. Mein Papa warf seine Angel aus. Ein sehr großer Fisch biss an, da entbrannte ein Kampf auf Leben und Tod. Der Fisch gewann. Er zerrte Papa über Bord. Mein Papa ertrank im tiefen blauen Meer.«

DONNERSTAG
    SCHÖNE AUSSICHTEN

    Eben hat Mama mich hier im Krankenhaus besucht. Alle anderen dürfen noch nicht zu mir: der Bühl nicht, Frau Dahling nicht, Berts nicht. Der Kiesling und der Mommsen auch nicht, obwohl ich es nett finde, dass beide sich nach mir erkundigt haben. Selbst Oskar lassen sie nicht rein, ich sehe ihn erst morgen. Und alles nur wegen einer kleinen Gehirnerschütterung!
    »Da unten lauert die Presse.« Mama stand an meinem Einzelbettzimmerfenster und guckte nach draußen. »Die stehen bis runter zum Landwehrkanal.«
    »Werde ich jetzt berühmt?«
    Sie seufzte. »Das wird sich nicht vermeiden lassen. Du und Oskar. Aber nur für ein paar Tage. Wir leben in einer schnellen Welt, die schnell vergisst.«
    Als sie reingekommen war und mich ohne ein Wort vorsichtig in die Arme genommen hatte, hatte ich sofort angefangen zu heulen. Sie trug schwarze Sachen, in denen sie aussah wie ein kleines Stückchen Mitternacht, und ihr Gesicht war ganz bekümmert gewesen. Alles meine Schuld, hatte ich gedacht. Aber das stimmte nicht. Onkel Christian war gestern gestorben. Ich wusste, dass Mama sich nicht gut mit ihm verstanden hatte, aber immerhin war er ihr Bruder gewesen.
    Mama war nur wegen mir nach Berlin zurückgekommen, für ein paar Stunden. Jetzt musste sie wieder nach unten links, wegen der Beerdigung und so weiter. Sie tat mir wirklich leid, aber ich freute mich auch ein bisschen, dass Onkel Christian nun doch ohne mich in seinem Sarg liegen würde. Für ihn war es sicher auch bequemer.
    »Weißt du, was das Verrückte ist?«, sagte Mama jetzt und kam vom Fenster zu meinem Bett, um sich auf den Rand zu setzen. »Das Verrückte ist, dass Christian mir alles vermacht hat. Er hatte sonst niemanden. Irgendwie traurig, findest du nicht?«
    »Was heißt vermacht?«
    »Vererbt. Sein ganzes Vermögen. Geld, Auto - alles.«
    »Sind wir jetzt reich?«
    »Wie man's nimmt. Er hatte auch dieses Haus ...«
    »Müssen wir jetzt etwa umziehen?«, rief ich erschreckt.
    »Wir müssen nicht.« Mama streichelte meinen verbundenen Arm. Sie sah mir fest in die Augen. »Aber wir werden.«
    Das war doch wohl die Höhe! Es ist schwierig, mit einer Gehirnerschütterung zu denken. Aber irgendwas in mir dachte ganz von alleine: dass ich Oskar als Freund verlieren würde, wenn ich auf der Karte nach unten links umziehen musste, und Frau Dahling und die Müffelchen. Dass ich ein anderes Förderzentrum besuchen würde, bevor der Wehmeyer jemals mein Ferientagebuch gelesen hatte. Dass das mit dem Bühl und Mama jetzt auf keinen Fall mehr klappen konnte und dass es unten links auch garantiert keinen Bingoclub gab. Wie hatte Mama eine solche Entscheidung treffen können, ohne mit mir darüber zu reden? Ich guckte sie empört an und fragte mich, was es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher