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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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groß — davon, dass der Marrak in Wirklichkeit womöglich gar keine Freundin hatte, die ihm die Wäsche und dergleichen machte, ganz zu schweigen.
    »Jedenfalls hatte ich es inzwischen irgendwie geschafft, einen Arm freizukriegen«, erzählte Oskar weiter. »Tja, und als der Marrak mich zum weißen Häuschen schleifte, erkannte ich es wieder, riss mir unbemerkt den roten Flieger vom Hemd und warf ihn über die Brüstung.«
    »Aber warum? Spätestens wenn dein Papa das Lösegeld für dich bezahlt hätte, wärst du freigelassen worden vom Marrak. Dann hättest du gegen ihn aussagen können, und alle hätten dir glauben müssen.«
    Eine Weile lang hörte ich Oskar nur atmen. »Ich war mir nicht sicher«, sagte er schließlich leise, »ob mein Papa das Geld ... ob er es schnell genug zusammenkriegen würde.
    Und so weiter.«
    Der letzte Satz klang so abgrundtief traurig, als wäre Oskar sich auch nicht sicher gewesen, ob sein Papa das Lösegeld überhaupt für ihn bezahlte.
    »Nur für diesen Fall«, sagte er, immer noch leise, »warst du meine einzige Hoffnung. Sie war zwar nur winzig klein, aber offenbar groß genug.«
    Wieder entstand eine Pause.
    »Lange Geschichte«, ertönte über uns eine Stimme. »Aber danke für die überaus aufschlussreiche Beschreibung!«
    Eine Taschenlampe leuchtete blendend auf.
    Oskar und ich kreischten gleichzeitig los. Wir rannten auch gleichzeitig los - über die Treppe nach unten. Der Marrak, der uns von ein paar Stufen weiter oben die ganze Zeit belauscht hatte, polterte sofort hinter uns her, was eine komische Art von Glück war, denn seine Taschenlampe erhellte nicht nur ihm, sondern auch uns den Weg. Wir sprangen, polterten und krachten durch das Hinterhaus und ich fragte mich, welcher Schwachkopf es jemals für einsturzgefährdet erklärt hatte — es hielt bombenfest.
    Unten angekommen, standen wir vor der verschlossenen Tür zum Hinterhof. Ich drückte Oskar den Schlüsselbund in die Hand. Er war schlauer als ich.
    »Mach du!«, zischte ich. »Ich lenk ihn ab!«
    Der Marrak schlug hinter uns auf wie ein Turmspringer im Schwimmbad bei einer Arschbombe. Seine Taschenlampe fiel krachend zu Boden und rollte davon. Staub wirbelte auf. Im Lichtschein sah ich Oskar bewegungslos neben mir stehen, als wollte er ausgerechnet jetzt ausprobieren, wie sich ein Baum oder eine Verkehrsampel oder dergleichen fühlt. Erstarrt vor Angst nennt man das wohl. Hinter ihm klebten drei Schatten auf der Wand, zwei kleine und ein riesig großer.
    »Endstation!«, stellte der Marrak fest.
    Wenn man Wut wiegen könnte, wog seine mindestens eine Tonne oder noch mehr. Jedenfalls locker an die fünfzig Kilogramm. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn aufhalten sollte, um uns Zeit zu verschaffen und Oskar aus seiner Starre zu lösen. Aber irgendwas musste mir einfallen. Ich spürte, wie die Bingomaschine in mir langsam anlief. Wenn ich noch fünf Sekunden länger wartete, war alles zu spät. Also warf ich ihm die erstbeste Frage, die mir einfiel, wie einen Bremsklotz vor die Füße, auch wenn ich sie ihm lieber gemütlich bei einer Tasse Kaffee oder dergleichen gestellt hätte. Am besten mit Gittern zwischen uns, in irgendeinem ausbruchsicheren Gefängnis.
    »Warum haben Sie Oskars Vater nach der Entführung angerufen, statt einen Brief zu schreiben, so wie sonst?«
    Der Marrak funkelte mich böse an, aber seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Damit es schneller geht«, knurrte er. »Damit ich diese neunmalkluge Nervensäge so schnell wie möglich loswerde!«
    Oskar zuckte in seiner Erstarrung nicht mal mit der Wimper, als das bullige Gesicht seines Entführers sich direkt vor seines schob.
    »Du bist das mit Abstand fürchterlichste Kind, das mir je über den Weg gelaufen ist!«, schnaubte der Marrak ihn an. »Weißt du, als was man dich noch im Mittelalter angesehen hätte? Als eine Missgeburt! Als eine Strafe Gottes! Gören wie dich hätte man vor vierhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt!«
    »Das Mittelalter«, sagte Oskar verächtlich, »endete vor über fünfhundert Jahren. Danach begann die Renaissance, Sie Knallkopfl«
    Ich kannte keine Renaissance, aber sie musste schrecklich gewesen sein, denn der Marrak zuckte zurück. Einen Moment lang befürchtete ich, er würde Oskar eine scheuern. Stattdessen setzte er plötzlich das liebenswerteste Gesicht aller Zeiten auf. In Krimis ist das immer ein Zeichen dafür, dass der Täter nicht alle Tassen im Schrank hat. Der
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