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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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kompliziert ausdrücken.
    Frau Dahling schob ein Gürkchen hinter der halben Tomate her. Es gab kleine Kracher, als sie darauf herumkaute. Dann leckte sie sich die Finger. »Wäre jedenfalls kein Verlust, wenn du mich fragst.« Sie schnaubte noch mal. »Diese Brüllwürfel sind das Schlimmste, was je in diesem Haus gewohnt hat!«
    »Ich finde Fitzke schlimmer.«
    Sie winkte ab und fischte nach ein paar Salzstangen. »Ach, der simuliert doch bloß. Ein Müffelchen, Rico?«

    Ich schnappte mir ein Müffelchen und ein Stück Gurke. Frau Dahling kaute ihre Salzstangen, dann griff sie plötzlich nach der Fernbedienung und stellte den Ton vom Fernseher ab. Man sah Bilder vom Dom und von ein paar Baukränen, aber die Erklärungen dazu fehlten. Stille breitete sich im Wohnzimmer aus. Frau Dahling blickte geradeaus mit ein bisschen verschwommenen Augen und rührte sich nicht mehr. Ich guckte sie aus dem Augenwinkel an und kaute dabei vorsichtig das Müffelchen und die Gurke. Es ist immer ein bisschen gruselig, wenn das graue Gefühl über sie kommt.
    »Was?«, sagte Frau Dahling nach einer Weüe unwillig, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen.
    »Sie könnten mal ausgehen«, sagte ich.
    »Ist das deine Idee oder eine von deiner Mutter?«
    »Meine.«
    Die Idee stammte von Mama. Man muss aufpassen, wenn man als tiefbegabtes Kind Sachen sagt, die klingen könnten, als hätte man sie sich nicht selber ausgedacht. Ruck, zuck denken die Leute sonst, man wäre ein angeberischer Lügner und eigentlich doch ganz schlau, und dann stellen sie einem Rechenaufgaben und dergleichen. Aber so doof bin ich auch nicht, als dass ich nicht wüsste, wie man ein graues Gefühl kriegt. Man kriegt es, weil man einsam ist, und andere Leute trifft man nun mal bloß, wenn man ausgeht oder sich jemanden im Internet aussucht. Ich hab keine Ahnung, wie alt Frau Dahling ist, bestimmt schon fast fünfzig. Trotzdem muss sich da doch noch irgendwer auftreiben lassen, der auch gerne Müffelchen isst. An der Fleischtheke bei Karstadt ist jedenfalls noch kein Mann für sie aufgetaucht.
    Die Abendschau war vorbei. Ulf Brauscher verschwand. Frau Dahling drückte entschlossen auf die Fernbedienung. Das Bild wurde schwarz, dann erschien das rosafarbene Logo vom DVD-Player.
    »Wir gucken Krimi.« Frau Dahling stemmte sich aus dem Sofa und ging zum Schrank mit der Filmsammlung drin. »Miss Marple« Jetzt juchzte ich wirklich.

    Später, als ich wieder in unserer eigenen Wohnung war und im Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Ein bisschen lag das an Miss Jane Marple. Ich rege mich immer auf, wenn ich einen Krimi mit ihr sehe, weil ich Angst habe, dass ihr was passiert. Beim Gucken vergesse ich vor lauter Spannung immer, dass sie letztes Mal im selben Film den Fall auch überlebt hat.
    Ein bisschen lag es auch daran, dass Vollmond war. Er beleuchtete die dunklen, blinden Fenster der leeren Wohnungen vom Hinterhaus. In manchen hängen noch alte Gardinen. Ausgerechnet den dritten Stock kann ich von meinem Bett aus richtig gut sehen. Da hat sich das Fräulein Bonhö-fer drin umgebracht. Fräulein Bonhöfer war eine alte Dame.
    Eines Tages kriegte sie Lungenkrebs und hatte keine Lust auf Krankenhaus. Sie drehte das Gas auf, steckte sich eine letzte Zigarette an und wartete eine Weile. Dann WUMMS!
    Erst dachte man, das Hinterhaus habe nicht allzu viel gelitten durch die Explosion. Die Wohnungen, in denen es alles zerdeppert hatte, bekamen neue Fenster und so weiter, aber als es an das Treppenhaus ging, stellte man fest, dass im vierten und fünften Stock nachträglich Risse in den Mauern aufgetaucht waren. Der ganze Kladderadatsch war einsturzgefährlich, und alle Bewohner mussten raus.
    Die Fenster im Treppenhaus wurden vernagelt, die Tür aus dem Hof ins Hinterhaus bekam ein fettes neues Sicherheitsschloss, und seitdem streiten sich die vielen verschiedenen Eigentümer der Wohnungen um die Kosten für den Wiederaufbau.
    Das ist viele Jahre her. Aber angeblich, das hatte der Mommsen mir gleich nach unserem Einzug erzählt, geistert seitdem das Fräulein Bonhöfer durch ihre alten Zimmer. Mommsen war gerade Hauswart geworden, als die Bonhöfer sich damals umbrachte. Er glaubt fest daran, dass sie in ihrer früheren Wohnung immer noch nach einem Aschenbecher oder dergleichen sucht.
    Ich muss da einfach immer rübergucken, ob ich will oder nicht. Ich hab schon oft überlegt, Mama darum zu bitten, Gardinen aufzuhängen oder ein Rollo, aber dann denkt sie vielleicht, ich
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