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Rheingold

Titel: Rheingold
Autoren: Stephan Grundy
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blendete, aber sie verschwanden, wenn er versuchte, sie direkt anzusehen. Der Geruch von Kräutern und Rauch erfüllte die Luft in der Hütte, aber eine seltsame Spannung breitete sich aus, als werde im nächsten Augenblick ein Blitz einschlagen. »Weißt du, was das für eine Nacht ist, Sigfrid?« fragte Regin mit tiefer, rauher Stimme. Bei dem unheimlichen Klang lief Sigfrid ein Schauer über den Rücken, und zum ersten Mal spürte er Regins unheimliches Wesen. Sigfrid war nie zuvor bewußt geworden, wie wenig von einem Menschen sein Pflegevater an sich hatte. Diese plötzliche Erkenntnis machte ihn mit einem Schlag unnatürlich wach, und er wußte, ein großes Abenteuer wartete auf ihn. »Nein«, antwortete Sigfrid ehrlich, holte tief Luft und versuchte, seine Aufregung zu zügeln. »Sag es mir bitte.«
    »Das ist die erste Walpurgisnacht, die Nacht der Göttin Hede - du weißt, Frowe Hulda, die Hexe. Und jetzt will ich dir das erste Geheimnis enthüllen: Du bist zwar am Ostarafest gezeugt und am Julfest geboren, aber ein Same deiner Geburt wurde vor Jahren in einer Walpurgisnacht gelegt. Hast du das verstanden?«
    »Nein.«
    »Du wirst es vielleicht verstehen - du wirst es verstehen, wenn wirklich das Wissen deiner Ahnen in deinen Adern fließt. Sigfrid, du bist ein Nachkomme von Sigmund und Siglind, den Wälsungen. Sigfrid, Sohn der Herwodis aus der Sippe des Hreidmar, ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich.«
    Regin drückte Sigfrid ein Trinkhorn mit dunklem Bier in die Hand. Im flackernden Feuerschein sah der Trank schwarz und unergründlich aus. Auf dem Horn bemerkte Sigfrid die rätselhaften Spuren altersfleckiger Runen.
    »Eine alte Frau gab mir das für dich bei deiner Geburt. Fürchtest du dich zu trinken? Glaubst du, sie hat einen Fluch hineingehext? Sehe ich recht, Sigfrid? Zittert deine Hand?«
    »Ich fürchte mich vor keiner Hexe«, erwiderte Sigfrid. Sein Mut wärmte ihn wie ein inneres Feuer, das in der spannungsgeladenen Luft aufflammte, und die Neugier auf das geheimnisvolle Bier war erwacht. »Es wäre unhöflich von mir, ein Geburtstagsgeschenk oder den Trank einer Frau zurückzuweisen.« Sigfrid hob das schäumende Horn an die Lippen und trank in großen Zügen. Das kühle, schaumige Bier war stark und schmeckte angenehm nach Gerste und fettem Boden, nach gärender Hefe und sprudelndem, heißem Wasser, nach den dunklen Geheimnissen der unbekannten Wurzeln, aus denen Bäume wachsen und Quellen entspringen. Die Wärme des Tranks verbreitete sich schnell in seinem Körper; er verlieh ihm Kraft und reinigte ihn. Und dann wurden die Flammen in der Feuerstelle zu rotglühendem Gold und das leise Rauschen des Rheins weit unten zu einem tosenden Wasserfall. Er sah, daß der glatte Holzstuhl, auf dem er saß, aus den Gebeinen der Erde geschnitzt war, den Gebeinen des ersten Riesen Ymir, aus dessen Leib Wotan, Wili und Wih, Midgard, die Erde, geschaffen hatten. Es waren Gebeine wie seine, die die Götter einst aus der Esche schufen, so wie sie die Frauen aus Ulmenholz gemacht hatten...
    »Bist du jetzt bereit, die Geschichte zu hören, Sigfrid?« flüsterte Regin. Seine Stimme klang wie ein Stein, der knirschend über einen alten Felsen reibt, aber darunter lag eine Spur von dunklem Gift und rauhen Schuppen, die über trockenes Geröll gleiten. »Bist du bereit, die Geschichte von der Sippe deiner Mutter zu hören, von ihrer Ururgroßmutter Lingheid, der Tochter von Hreidmar und vom Rheingold, das alle Nachkommen von Hreidmar zum Untergang verurteilt? Bist du bereit, von den Wälsungen zu hören, die Wotan zeugte? Willst du etwas von den Taten deines Vaters und seiner Zwillingsschwester erfahren, die Wotan zuerst zum Sieg und dann in den Untergang führte? Aus diesen beiden Fäden wurde schließlich das Band all dessen geflochten, was du bist. Du leichtsinniger, törichter Junge, bist du bereit, in die Tiefen deines Schicksals zu blicken, das die Norne Urdr mit dem Schicksalsfaden spinnt?«
    »Ich bin bereit«, erwiderte Sigfrid und hörte seine klare, helle Stimme aus weiter, weiter Ferne wie den Klang eines goldenen Horns.

2
DER OTTER
    Der wilde Sturm peitschte die Tannen und heulte wie ein hungriger Wolf. Er jagte die rabenschwarzen Wolken so schnell vor sich her wie ein galoppierendes achtbeiniges Schattenroß. Der Wind brachte Regen. Ein grauer Wasserfall stürzte vom Himmel. Er schmeckte ein wenig nach Wein oder Met, geheimnisvoll und magisch. Und in den Aufruhr der Elemente mischte sich das
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