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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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im Kreis, zweimal, dreimal, und erinnert sich dabei daran, wie er als Junge beim Friseur auf dem Stuhl gesessen hat und wie Rocco, der Friseur, ihn vor und nach dem Haareschneiden auf ähnliche Weise im Kreis herumgedreht hat. Als Mr.   Blank wieder zur Ruhe kommt, befindet sich der Stuhl mehr oder weniger in der gleichen Position wie zu Beginn seines Kreisens, das heißt also, er blickt wieder in Richtung der Jalousie vor dem Fenster, und wieder fragt er sich, nach diesem angenehmen Zwischenspiel, ob er nicht zum Fenster gehen, die Jalousie hochziehen und einen Blick nach draußen werfen sollte, um zu sehen, wo er sich befindet. Vielleicht ist er gar nicht mehr in Amerika, sagt er sich, sondern in einem anderen Land, in finsterer Nacht von Geheimagenten entführt, die für irgendeine ausländische Macht arbeiten.
    Nach den drei Umdrehungen auf dem Stuhl ist ihm jedoch ein wenig schwindlig, und da er eine Wiederholung der Episode fürchtet, die ihn vor wenigen Minuten gezwungen hat, auf allen vieren durch den Raum zu kriechen, traut er sich nicht so recht von der Stelle. Mr.   Blank ist sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass der Stuhl nicht nur vor- und zurückgeschaukeltund im Kreis gedreht werden kann, sondern auch noch mit vier Rollen ausgestattet ist, die es ihm ermöglichen würden, zu der Jalousie zu gelangen, ohne aufstehen zu müssen. Da er also nicht ahnt, dass ihm außer seinen Beinen noch andere Fortbewegungsmittel zur Verfügung stehen, bleibt Mr.   Blank, wo er ist: bleibt auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Schreibtisch, betrachtet die einst weiße, jetzt aber vergilbte Jalousie und versucht sich an sein Gespräch mit dem Expolizisten James P.   Flood vom vorigen Nachmittag zu erinnern. Er tastet in seinem Gedächtnis nach einem Bild, nach irgendeinem Hinweis darauf, wie dieser Mann aussieht, doch statt irgendwelche deutlichen Bilder heraufzubeschwören, wird er wieder einmal von einer lähmenden Woge von Schuldgefühlen überwältigt. Bevor sich diese erneute Attacke von Qualen und Schrecken jedoch zu einer ausgewachsenen Panik ausweiten kann, vernimmt Mr.   Blank ein Klopfen an der Tür und dann das Geräusch eines Schlüssels, der ins Schloss eingeführt wird. Bedeutet das, dass Mr.   Blank in diesem Raum gefangen gehalten wird und, wenn er gehen will, auf die Gnade und das Wohlwollen anderer angewiesen ist? Nicht unbedingt. Es könnte sein, dass Mr.   Blank die Tür von innen abgeschlossen hat und dass die Person, die jetzt den Raum zu betreten versucht, das Schloss aufmachen muss, um über die Schwelle zu kommen, und damit Mr.   Blank die Mühe erspart, aufzustehen und die Tür selbst zu öffnen.
    Wie auch immer, die Tür geht auf, und eine kleine Frau undefinierbaren Alters tritt ein – fünfundvierzig bis sechzig Jahre alt, denkt Mr.   Blank, aber auch diese grobe Schätzung könnte falsch sein. Ihr graues Haar ist kurzgeschnitten, sie trägt eine dunkelblaue Hose und eine hellblaue Baumwollbluse, und sobald sie den Raum betreten hat, wirft sie Mr.   Blank ein Lächeln zu. Dieses Lächeln, das Sanftheit und Freundlichkeit zu vereinen scheint, bannt seine Ängste und versetzt ihn in einen Zustand gefasster Ruhe. Er hat keine Ahnung, wer sie ist, ist aber dennoch froh, sie zu sehen.
    Haben Sie gut geschlafen?, fragt die Frau.
    Ich bin mir nicht sicher, antwortet Mr.   Blank. Um ganz ehrlich zu sein, ich kann mich nicht erinnern, ob ich geschlafen habe oder nicht.
    Das ist gut. Das heißt, die Behandlung wirkt.
    Statt diese rätselhafte Äußerung zu kommentieren, sieht Mr.   Blank die Frau schweigend an und fragt schließlich: Verzeihen Sie meine Dummheit, aber Sie heißen nicht zufällig Anna?
    Wieder lächelt die Frau ihn sanft und freundlich an. Es freut mich, dass Sie meinen Namen behalten haben. Gestern ist er ihnen ständig entfallen.
    Plötzlich verwirrt und aufgeregt, schwenkt Mr.   Blank den Ledersessel zum Schreibtisch herum und zieht aus dem Stapel Schwarzweißfotos das Porträt der jungen Frau. Bevor er sich wieder zu der Frau, die Anna zuheißen scheint, umdrehen kann, steht sie neben ihm, legt ihm sachte eine Hand auf die rechte Schulter und schaut mit ihm zusammen auf das Foto.
    Wenn Sie Anna heißen, sagt Mr.   Blank mit vor Erregung bebender Stimme, wer ist dann das? Auch sie heißt Anna, richtig?
    Ja, sagt die Frau und studiert das Porträt mit einer Miene, als löse eine Erinnerung in ihr gleich starke, aber entgegengesetzte Empfindungen von Abscheu und
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