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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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Der Polizist.
    Expolizist.
    Richtig. Der Expolizist. Was kann ich für Sie tun?
    Ich möchte Sie wiedersehen.
    Hat das eine Gespräch nicht gereicht?
    Nicht ganz. Ich weiß, ich spiele in dieser Angelegenheit nur eine Nebenrolle, aber man hat mir gesagt, ich dürfe Sie zweimal sehen.
    Das heißt, ich habe gar keine Wahl.
    So sieht es aus, leider. Aber wir brauchen nicht indem Raum zu reden, wenn Sie nicht wollen. Wir können nach draußen gehen und uns in den Park setzen, wenn Ihnen das lieber ist.
    Ich habe nichts anzuziehen. Ich stehe hier in Schlafanzug und Pantoffeln.
    Schauen Sie in den Schrank. Da sind alle Kleider, die Sie brauchen.
    Ah. Der Schrank. Danke.
    Haben Sie schon gefrühstückt, Mr.   Blank?
    Ich glaube nicht. Darf ich denn essen?
    Drei Mahlzeiten am Tag. Es ist noch ein wenig früh, aber Anna müsste bald kommen.
    Anna? Haben Sie Anna gesagt?
    Das ist die Person, die sich um Sie kümmert.
    Ich dachte, sie sei tot.
    Wohl kaum.
    Vielleicht meine ich eine andere Anna.
    Das bezweifle ich. Von allen, die an dieser Geschichte beteiligt sind, ist sie die Einzige, die ganz auf Ihrer Seite ist.
    Und die anderen?
    Sagen wir so: Es herrscht große Verärgerung, und dabei wollen wir es belassen.

 
    Es sollte bemerkt werden, dass zusätzlich zu der Kamera in eine der Wände ein Mikrophon eingebaut ist; jeder Ton, den Mr.   Blank von sich gibt, wird von einemhochempfindlichen Digitalrecorder aufgezeichnet. Das leiseste Stöhnen oder Schniefen, jedes Hüsteln, jeder noch so flüchtige Furz, alle diese Geräusche sind daher ebenfalls wesentliche Bestandteile unseres Berichts. Selbstverständlich gehören zu diesen akustischen Daten auch die von Mr.   Blank verschiedentlich gemurmelten, gesprochenen oder geschrienen Worte, wie zum Beispiel das oben wiedergegebene Telefonat mit James P.   Flood. Das Gespräch endet damit, dass Mr.   Blank widerstrebend der Forderung des Expolizisten nachgibt, ihm im Lauf des Vormittags einen Besuch abstatten zu dürfen. Nachdem Mr.   Blank den Hörer aufgelegt hat, setzt er sich auf die Kante des schmalen Betts und nimmt eine mit der im ersten Satz dieses Berichts beschriebenen identische Haltung ein: die Hände gespreizt auf den Knien, den Kopf gesenkt, starrt er den Fußboden an. Er überlegt, ob er wieder aufstehen und nach dem Schrank suchen soll, auf den Flood hingewiesen hat, und ob er, falls dieser Schrank existiert, den Schlafanzug aus- und etwas anderes anziehen soll, vorausgesetzt, es befinden sich tatsächlich Kleider in dem Schrank – falls dieser Schrank überhaupt existiert. Aber Mr.   Blank hat es nicht eilig, sich mit solch profanen Dingen zu befassen. Er möchte zu dem Typoskript zurück, das er zu lesen angefangen hat, bevor er vom Telefon unterbrochen wurde. Also steht er vom Bett auf, doch als er zögernd einen ersten Schritt in Richtung Schreibtisch setzt, befällt ihn ein jäherSchwindel. Er spürt, dass er zu Boden stürzen wird, wenn er noch länger stehen bleibt, aber statt zum Bett zurückzukehren und sich hinzusetzen, bis der Anfall vorüber ist, legt er die rechte Hand an die Wand, stützt sich mit seinem ganzen Gewicht daran ab und lässt sich langsam auf die Knie sinken. Von dort wirft Mr.   Blank sich nach vorn und landet auf den Handflächen. Ob ihm schwindlig ist oder nicht, er ist so fest entschlossen, den Schreibtisch zu erreichen, dass er auf allen vieren dort hinkriecht.
    Als es ihm gelungen ist, auf den Ledersessel zu klettern, schaukelt er erst einmal ein wenig, um seine Nerven zu beruhigen. Trotz seiner körperlichen Anstrengungen begreift er, dass er Angst hat, das Typoskript weiterzulesen. Warum ihn diese Angst ergriffen hat, kann er sich nicht erklären. Es sind doch nur Worte, sagt er sich, und seit wann haben Worte die Macht, einen Mann halb zu Tode zu ängstigen? Es geht nicht, murmelt er kaum hörbar. Dann, um sich aufzumuntern, wiederholt er diesen Satz, schreit ihn aus Leibeskräften: ES GEHT NICHT!
    Unerklärlicherweise gibt ihm dieser plötzliche Ausbruch den Mut weiterzumachen. Er holt tief Luft, richtet seine Augen auf die Worte vor ihm und liest die folgenden zwei Absätze:
    Man hielt mich von Anfang an in diesem Raum gefangen. Soweit ich das erkennen kann, ist es keine typische Zelle und scheint weder zu dem abgezäunten Militärbereichnoch zu der territorialen Strafanstalt zu gehören. Es ist ein kleines, karges Gemach von etwa dreieinhalb mal viereinhalb Metern, und aus der Schlichtheit seiner Konstruktion
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