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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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Wehmut aus. Das ist Anna. Und auch ich bin Anna. Das ist ein Bild von mir.
    Aber, stammelt Mr.   Blank, aber das Mädchen auf dem Bild ist jung   … Und Sie   … Sie haben graues Haar.
    Die Zeit, Mr.   Blank, sagt Anna. Sie wissen doch, was Zeit bedeutet? Das hier bin ich vor fünfunddreißig Jahren.
    Ehe Mr.   Blank antworten kann, legt Anna das Porträt ihres jüngeren Ichs auf den Fotostapel zurück.
    Ihr Frühstück wird kalt, sagt sie und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum, erscheint aber gleich darauf wieder, um einen Servierwagen aus Edelstahl, auf dem ein Tablett mit einer Mahlzeit steht, neben das Bett zu schieben.
    Die Mahlzeit besteht aus einem Glas Orangensaft, einer gebutterten Scheibe Toast, zwei pochierten Eiern in einer kleinen weißen Schale und einer Kanne Earl-Grey-Tee. Zu gegebener Zeit wird Anna Mr.   Blank von dem Stuhl hochhelfen und ihn zum Bett führen, zuvoraber reicht sie ihm ein Glas Wasser und drei Pillen – eine grüne, eine weiße und eine violette.
    Was fehlt mir denn?, fragt Mr.   Blank. Bin ich krank?
    Nein, überhaupt nicht, sagt Anna. Die Pillen sind Teil der Behandlung.
    Ich fühle mich nicht krank. Ein bisschen müde und benommen, mag sein, ansonsten aber nicht allzu schlecht. In Anbetracht meines Alters ganz und gar nicht schlecht.
    Nehmen Sie die Pillen, Mr.   Blank. Dann können Sie Ihr Frühstück essen. Sie müssen doch großen Hunger haben.
    Aber ich will diese Pillen nicht, erwidert Mr.   Blank störrisch. Wenn ich nicht krank bin, nehme ich auch diese widerlichen Pillen nicht.
    Statt auf diese rüde und aggressive Erklärung mit ähnlicher Schroffheit zu reagieren, beugt Anna sich vor und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Lieber Mr.   Blank, sagt sie. Ich weiß, wie Sie sich fühlen, aber Sie haben versprochen, die Pillen täglich zu nehmen. So lautet die Abmachung. Wenn Sie die Pillen nicht nehmen, kann aus der Behandlung nichts werden.
    Das habe ich versprochen?, sagt Mr.   Blank. Wie kann ich wissen, dass Sie die Wahrheit sagen?
    Weil ich es bin, Anna, und ich Sie niemals belügen würde. Dafür liebe ich Sie zu sehr.
    Die Erwähnung des Wortes
Liebe
dämpft Mr.   Blanks Entschlossenheit, und unvermittelt gibt er nach. Naschön, sagt er, ich nehme die Pillen. Aber nur, wenn Sie mir noch einen Kuss geben. Einverstanden? Aber diesmal muss es ein richtiger Kuss sein. Auf den Mund.
    Anna lächelt, beugt sich abermals vor und küsst Mr.   Blank auf den Mund. Der Kuss dauert gut drei Sekunden und ist somit eindeutig mehr als ein flüchtiges Küsschen, und obwohl die Zungen nicht daran beteiligt sind, jagt dieser intime Kontakt ein Prickeln der Erregung durch Mr.   Blanks Körper. Als Anna sich wieder aufrichtet, ist er schon dabei, die Pillen zu schlucken.
    Jetzt sitzen sie nebeneinander auf der Bettkante. Vor ihnen steht der Servierwagen, und während Mr.   Blank den Orangensaft trinkt, einen Bissen von seinem Toast und einen ersten Schluck Tee nimmt, massiert Anna ihm mit der linken Hand sanft den Rücken und summt dazu ein Lied, das er nicht erkennt, von dem er aber weiß, dass es ihm vertraut ist oder früher einmal vertraut war. Dann macht er sich über die pochierten Eier her, sticht mit der Löffelspitze einen Dotter an und häuft eine maßvolle Menge Gelb und Weiß in die Höhlung des Esswerkzeugs, doch als er den Löffel an seinen Mund zu heben versucht, bemerkt er zu seiner Bestürzung, dass seine Hand zittert. Nicht bloß ein leichtes Beben, sondern ein ausgeprägtes, krampfhaftes Zucken, das er nicht unterdrücken kann. Als er den Löffel zwei Handbreit über die Schale gehoben hat, ist der Krampf schon so heftig, dass ihm der größere Teil des gelb-weißen Gemischs aufs Tablett platscht.
    Möchten Sie, dass ich Sie füttere?, fragt Anna.
    Was habe ich denn nur?
    Kein Grund zur Sorge, antwortet sie und tätschelt seinen Rücken, um ihn zu beruhigen. Eine natürliche Reaktion auf die Pillen. Das geht in wenigen Minuten vorbei.
    Da haben Sie mir ja eine schöne Behandlung ausgeheckt, brummt Mr.   Blank larmoyant und verdrossen vor sich hin.
    Alles nur zu Ihrem Besten, sagt Anna. Und es soll auch nicht ewig dauern. Glauben Sie mir.
    Also lässt sich Mr.   Blank von Anna füttern, und während sie ruhig die pochierten Eier in kleine Portionen teilt und ihm zu essen gibt, ihm die Teetasse an die Lippen hält und mit einer Papierserviette den Mund abwischt, kommt ihm der Gedanke, Anna sei keine Frau, sondern eher ein Engel oder, wenn man so
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