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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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zu kurzem, unruhigem Schlaf erwacht, und als die Sohlen seiner Pantoffeln über den nackten Holzboden schaben, erinnert ihn dieses Geräusch an Schmirgelpapier. Aus weiter Ferne, von jenseits des Raums, von jenseits des Gebäudes, in dem der Raum sich befindet, hört er den undeutlichen Schrei eines Vogels – einer Krähe vielleicht, einer Möwe vielleicht, er kann es nicht sagen.

 
    Inzwischen hat Mr.   Blank mehr gelesen, als er verdauen kann, und er ist nicht im Geringsten amüsiert. Aufgestaute Wut und Frustration entladen sich, und er schleudert das Manuskript mit einer heftigen Drehung des Handgelenks nach hinten über seine Schulter; er sieht nicht einmal nach, wo es landet. Während es durch die Luft flattert und dann hinter ihm auf den Boden schlägt, hämmert er mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte und sagt mit lauter Stimme: Wann wird dieser Unsinn endlich aufhören?

 
    Er wird niemals aufhören. Denn Mr.   Blank ist jetzt einer von uns, und er kann sich, um seine Lage zu begreifen, abstrampeln wie er will – er wird es nicht schaffen. Ichglaube, ich spreche für alle seine Untergebenen, wenn ich sage, dass er nur bekommt, was er verdient – nicht mehr und nicht weniger. Nicht als Strafe, sondern als Akt höchster Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Ohne ihn sind wir nichts, aber das Paradoxe an der Situation ist, dass wir, die Chimären im Kopf eines anderen, den Kopf, der uns erschaffen hat, überleben werden, denn sind wir einmal in die Welt geworfen, existieren wir in alle Ewigkeit weiter, und unsere Geschichten werden, auch wenn wir selbst längst gestorben sind, immer weitererzählt.
    Mr.   Blank mag im Lauf der Jahre gegen einige seiner Untergegebenen grausam gewesen sein, aber keiner von uns ist der Meinung, dass er nicht sein Möglichstes getan hat, uns gut zu behandeln. Das ist der Grund, warum ich ihn dort lassen will, wo er ist. Der Raum ist jetzt seine Welt, und je länger die Behandlung dauert, desto besser wird er akzeptieren können, was man ihm so großzügig angedeihen lässt. Mr.   Blank ist alt und schwach, aber so lange er in dem Raum mit dem aussichtlosen Fenster und der abgeschlossenen Tür bleibt, kann er nicht sterben, nicht verschwinden, nie etwas anderes sein als die Worte, die ich auf dieses Papier schreibe.
    Binnen kurzem wird eine Frau den Raum betreten und ihn zu Abend füttern. Ich habe noch nicht entschieden, wer diese Frau sein wird, aber wenn bis dahin alles gutgeht, werde ich ihm Anna schicken. Das wird Mr.   Blank glücklich machen, und alles in allem hat er fürdiesen einen Tag wahrscheinlich genug gelitten. Anna wird ihn füttern, ihn waschen und zu Bett bringen. Mr.   Blank wird eine Zeitlang im Dunkeln wach liegen und den Rufen der Vögel in der Ferne lauschen, aber dann werden ihm die Lider schwer werden und schließlich zufallen. Er wird einschlafen, und wenn er am Morgen aufwacht, wird die Behandlung von neuem beginnen. Aber vorläufig ist es noch der Tag, der es seit dem ersten Wort dieses Berichts gewesen ist, und jetzt ist der Augenblick, da Anna ihm einen Kuss auf die Wange gibt und ihn schön zudeckt, und jetzt ist der Augenblick, da sie sich vom Bett erhebt und zur Tür schreitet. Schlafen Sie wohl, Mr.   Blank.
    Licht aus.

Informationen zum Buch
    Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University New York und verbrachte einige Jahre in Paris. Heute lebt Auster in Brooklyn. Er ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet und hat zwei Kinder. Austers Romane, Essays, Gedichte und Drehbücher liegen sämtlich in der Reihe der rororo-Taschenbücher vor.
     
    Weitere Veröffentlichungen:
Mein New York
Von der Hand in den Mund
Nacht des Orakels
Mr.   Vertigo
Im Land der letzten Dinge
Die Brooklyn-Revue
Die Musik des Zufalls
Mond über Manhattan
Das Buch der Illusionen
Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte
Timbuktu
Das rote Notizbuch
Die Erfindung der Einsamkeit
Die New-York-Trilogie
Leviathan
Mann im Dunkel

Informationen zum Autor
    In einem verschlossenen, abgedunkelten Zimmer sitzt ein alter Mann: vergesslich, gebrechlich, inkontinent. Er weiß weder, wer er ist, noch wo er ist. Eine Kamera und Mikrophone beobachten ihn. Auf seinem Nachttisch stehen Fotos von Menschen, die ihm bekannt vorkommen. Je verzweifelter er sich zu besinnen versucht, desto tiefer gerät er in ein Labyrinth erdachter Welten, bis er sich schließlich in den Zeilen eines
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