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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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wurde als Doppelagent in die Territorien geschickt mit dem Auftrag, die Djiin zu einer Invasion der Westprovinzen aufzuwiegeln, was den Krieg auslösen würde, den die Regierung so verzweifelt herbeisehnt. Aber Land hat versagt. Ein Jahr vergeht, und als nach so langer Zeit immer noch nichts geschehen ist, kommen die Herrschenden zu dem Schluss, dass Land sie verraten hat, dass er aus irgendeinem Grund den Einflüsterungen seines Gewissens erlegen ist und mit den Djiin Frieden geschlossen hat. Also hecken sie einen neuen Plan aus und entsenden ein zweites Heer in die Territorien. Diesmal nicht von Ultima aus, sondern von einer anderen, einige hundert Meilen weiter nördlich gelegenen Garnison; und dieses Kontingent ist wesentlich größer als das erste, mindestens zehnmal so groß, und bei tausend Soldaten gegen hundert haben Land und sein Pöbelhaufen von Idealisten keine Chance. Ja, Sie haben richtig gehört. Die Konföderation entsendet ein zweites Heer, um das erste auszulöschen. Alles natürlich unter strenger Geheimhaltung, und jemand wie Graf, auf die Suche nach Land geschickt, kann nur zu dem Schluss gelangen, dass die Djiin diesen Haufen stinkender, verstümmelter Leichen zu verantworten haben. An dieser Stelle wird Graf zur Schlüsselfigur der ganzen Operation.Ohne es zu wissen, ist er es, der den Krieg auslösen wird. Wie? Indem man ihm erlaubt, seine Geschichte in dieser lausigen kleinen Zelle in Ultima aufzuschreiben. Anfangs nimmt De Vega ihn in die Mangel, prügelt ihn eine ganze Woche lang, aber das geschieht nur, um ihn gottesfürchtig zu machen und ihn davon zu überzeugen, dass er demnächst hingerichtet werden soll. Und wenn ein Mann glaubt, dass er bald sterben wird, schüttet er, sobald man ihm zu schreiben erlaubt, sein Herz auf Papier aus. Also tut Graf, was sie von ihm erwarten. Er berichtet von seinem Auftrag, Land aufzuspüren, und als er zu dem Massaker in der Salzwüste gelangt, lässt er nichts aus, beschreibt das ganze Grauen bis ins letzte blutige Detail. Das ist der entscheidende Punkt: ein anschaulicher Bericht aus erster Hand über das Geschehnis, wobei die ganze Schuld den Djiin zugeschoben wird. Als Graf mit seiner Geschichte fertig ist, nimmt De Vega das Manuskript in Besitz und entlässt ihn aus dem Gefängnis. Graf kann es nicht fassen. Er hatte erwartet, erschossen zu werden, und jetzt bekommt er eine fette Prämie für seine Arbeit und eine Gratisrückfahrt erster Klasse in die Hauptstadt. Als er mit der Kutsche nach Hause kommt, ist sein Manuskript bereits von sämtlichen Zeitungen im Land in geschickt redigierter Form veröffentlicht worden. SOLDATEN DER KONFÖDERATION VON DJIIN ABGESCHLACHTET. Augenzeugenbericht von Sigmund Graf, Stellvertretender Vizedirektor des Büros für Innere Angelegenheiten.Schon steht die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt unter Waffen, alles schreit nach einem Einmarsch in die Fremden Territorien. Und Graf versteht plötzlich, wie grausam man ihn reingelegt hat. Ein Krieg dieses Ausmaßes könnte die Konföderation zerstören, und es stellt sich heraus, dass er, er allein, das Zündholz war, das dieses tödliche Feuer entfacht hatte. Er geht zu Joubert und verlangt eine Erklärung. Nachdem jetzt alles so gut gelaufen ist, gibt Joubert sie ihm mit Vergnügen. Dann bietet er Graf eine Beförderung inklusive einer beträchtlichen Gehaltserhöhung an, aber Graf kontert mit einem eigenen Angebot: Ich kündige, sagt er, marschiert aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Am selben Abend nimmt er im Dunkel seines leeren Hauses einen geladenen Revolver und schießt sich eine Kugel in den Kopf. Und das war’s. Ende der Geschichte. Finita, la comedia.

 
    Mr.   Blank hat nahezu zwanzig Minuten lang ununterbrochen geredet, und jetzt ist er müde – nicht nur von der Belastung seiner Stimmbänder, denn er hatte ohnehin schon einen rauen Hals (von der Kotzerei im Bad nur wenige Minuten zuvor), und die letzten Sätze seiner Erzählung spricht er mit merklichem Kratzen in der Stimme. Er schließt die Augen, wobei er vergisst, dass er damit voraussichtlich wieder die durch die Wildnis stolpernde Prozession von Chimären heraufbeschwörenwird, diesen Pöbelhaufen der Verdammten, diese Gesichtslosen, die ihn am Ende umzingeln und in der Luft zerreißen werden, aber diesmal hat er Glück, die Dämonen bleiben ihm erspart, und als er die Augen schließt, gleitet er in die Vergangenheit zurück, und dort sitzt er auf einem Stuhl, einem breiten
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