Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Holzstuhl, auf einem Rasen irgendwo auf dem Lande, in einer abgelegenen, ländlichen Gegend, die er nicht identifizieren kann, grünes Gras in der Nähe und bläuliche Berge in der Ferne, und es ist warm, warm wie im Sommer, und vom wolkenlosen Himmel scheint ihm die Sonne auf die Haut, und hier ist Mr.   Blank, augenscheinlich vor vielen Jahren, Mr.   Blank als junger Mann; er sitzt auf einem Stuhl und hält ein kleines Kind in den Armen, ein ein Jahr altes Mädchen in weißem T-Shirt und weißer Windel, und Mr.   Blank schaut dem kleinen Mädchen in die Augen und spricht mit ihr, was genau, kann er nicht sagen, denn dieser Ausflug in die Vergangenheit vollzieht sich schweigend, und während Mr.   Blank mit dem kleinen Mädchen redet, sieht sie ihn mit aufmerksamer, ernster Miene an, und jetzt, mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegend, fragt er sich, ob diese kleine Person nicht Anna Blume am Beginn ihres Lebens ist, seine geliebte Anna Blume, und falls es nicht Anna ist, ob das Kind nicht seine Tochter sein könnte, aber was für eine Tochter, fragt er sich, was für eine Tochter, und wie heißt sie, und falls er der Vater eines Kindes ist, wo ist die Mutter, und wie heißt sie, fragt er sich, und dann nimmt ersich vor, sich nach diesen Dingen zu erkundigen, wenn das nächste Mal jemand bei ihm vorbeischaut, denn er will wissen, ob er irgendwo ein Haus hat, in dem Frau und Kinder auf ihn warten, oder ob er einmal eine Frau hatte oder ein Haus oder ob dieser Raum nicht der Ort ist, an dem er schon immer gelebt hat, aber schon ist Mr.   Blank dabei, diese Fragen zu vergessen, und wird daher auch vergessen, sie zu stellen, denn er ist jetzt ungeheuer müde, und das Bild von ihm selbst auf dem Stuhl mit dem kleinen Kind in seinen Armen ist wieder verschwunden, und Mr.   Blank schläft ein.
    Dank der Kamera, die im Verlauf dieses Berichts kontinuierlich ein Bild pro Sekunde aufgenommen hat, können wir mit Bestimmtheit sagen, dass Mr.   Blanks Nickerchen exakt siebenundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden dauert. Er hätte vielleicht noch viel länger geschlafen, aber ein Mann hat den Raum betreten und klopft Mr.   Blank jetzt auf die Schulter, um ihn zu wecken. Als der alte Mann die Augen aufschlägt, fühlt er sich von dem kurzen Abstecher ins Land des Schlummers vollständig erfrischt und richtet sich sofort auf, hellwach, bereit für diese Begegnung, ohne eine Spur von Benommenheit.
    Der Besucher wirkt wie Ende fünfzig, Anfang sechzig, und wie vor ihm bereits Farr trägt er Bluejeans, aber während Farr ein rotes Hemd getragen hatte, ist das Hemd dieses Mannes schwarz, und während Farr mit leeren Händen in den Raum getreten war, hält der Mann indem schwarzen Hemd ein dickes Aktenbündel in den Armen. Sein Gesicht ist Mr.   Blank zutiefst vertraut, aber wie bei so vielen Gesichtern, die er heute gesehen hat, ob auf Fotografien oder in Fleisch und Blut, vermag er es beim besten Willen nicht mit einem Namen in Verbindung zu bringen.
    Sind Sie Fogg?, fragt er. Marco Fogg?
    Der Besucher schüttelt lächelnd den Kopf. Nein, sagt er, leider nicht. Wie kommen Sie darauf, dass ich Fogg sein könnte?
    Ich weiß nicht, aber als ich eben aufwachte, fiel mir plötzlich ein, dass Fogg gestern um diese Zeit zu mir gekommen ist. Ein kleines Wunder, wenn ich das jetzt so bedenke. Dass ich mich erinnert habe, meine ich. Aber Fogg war tatsächlich hier. Da bin ich mir sicher. Zum Nachmittagstee. Wir haben Karten gespielt. Wir haben uns unterhalten. Und er hat mir einige lustige Witze erzählt.
    Witze?, fragt der Besucher. Er geht zum Schreibtisch, dreht den Stuhl um hundertachtzig Grad, setzt sich und legt den Aktenstapel auf seinen Schoß. Unterdessen steht Mr.   Blank auf, schlurft ein paar Schritte nach vorn und lässt sich auf der Kante der Matratze nieder, ungefähr an der Stelle, an der früher am Tag Flood gesessen hat.
    Ja, Witze, fährt Mr.   Blank fort. Ich kann mich nicht an alle erinnern, aber einen habe ich besonders gut gefunden.
    Wären Sie so freundlich, ihn mir zu erzählen?, sagt der Besucher. Ich bin immer auf der Suche nach guten Witzen.
    Ich kann es versuchen, antwortet Mr.   Blank und schweigt dann erst einmal, um seine Gedanken zu sammeln. Also, sagt er. Hmmm. Wollen doch mal sehen. Ich glaube, der Anfang geht so. Ein Mann kommt um fünf Uhr nachmittags in eine Bar in Chicago und bestellt drei Scotch. Nicht einen nach dem anderen, sondern alle drei auf einmal. Der Barkeeper wundert sich über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher