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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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Frauen in eine ausweglose Situation geraten. Ich weiß nicht, auf welche Lösung er verfallen ist, würde aber viel Geld darauf wetten, dass es die zweite war – die genauso schlecht ist wie die erste und die dritte. Ich selbst würde Beatrice und Marta kurzerhand streichen. Sagen wir, sie sind bei der Choleraepidemie gestorben, und damit wäre das erledigt. Schlimm für Graf, gewiss, aber wenn man eine gute Geschichte erzählen will, darf man kein Mitleid zeigen.
    Okay, sagt Mr.   Blank und räuspert sich, während er versucht, den Faden der Erzählung wiederaufzunehmen, wo waren wir? Graf. Graf ist allein. Graf zieht auf seinem Pferd, dem braven Ross Whitey, durch die Wüste, auf der Suche nach dem flüchtigen Ernesto Land   …
    Mr.   Blank verstummt. Eine neue Idee ist ihm zugeflogen, eine gemeine, teuflische Erleuchtung, die seinen ganzen Körper von den Zehenspitzen bis zu den Nervenzellen in seinem Gehirn vor Wonne erbeben lässt. In einem einzigen Augenblick hat sich ihm die ganze Angelegenheit aufgeklärt, und während der alte Mann die ungeheuren Konsequenzen dessen bedenkt, was, wie er plötzlich weiß, die einzig mögliche Alternative ist, die einzige Möglichkeit, die ihm aus der Schar konkurrierender Möglichkeiten zur Verfügung steht, schlägt er sich mit den Fäusten an die Brust, strampelt mit den Füßen,wirft die Schultern hoch und bricht in wildes, krampfhaftes Gelächter aus.
    Moment, sagt Mr.   Blank und hebt eine Hand, um seinen imaginären Gesprächspartner zu bremsen. Streichen Sie das alles. Jetzt hab ich’s. Zurück zum Anfang. Das heißt, zu Teil zwei. Zurück zum Anfang von Teil zwei, als Graf sich über die Grenze in die Fremden Territorien schleicht. Vergessen Sie das Massaker an den Gangi. Vergessen Sie das zweite Massaker an den Gangi. Graf hält sich von allen Djiin-Dörfern und Siedlungen fern. Der Sperrzonen-Erlass ist seit zehn Jahren in Kraft, und er weiß, die Djiin würden seine Anwesenheit sehr übelnehmen. Ein weißer Mann, der allein durch die Territorien reist? Unmöglich. Wenn sie ihn finden, ist er so gut wie tot. Also hält er sich weit abseits, immer in den unermesslichen wüsten Gebieten, die die verschiedenen Nationen voneinander trennen, auf der Suche nach Land und seinen Männern, und ja, er begegnet zwar dem wahnsinnig gewordenen Soldaten, aber als er dann findet, was er sucht, ist es ganz und gar das Gegenteil von dem, was er erwartet hat. In einer kahlen Ebene der nördlichen Zentralregion der Territorien, einem Landstrich ähnlich den Salzwüsten von Utah, stößt er auf einen Berg von einhundertfünfzehn Leichen, einige verstümmelt, andere unversehrt, alle unter der Sonne bereits in Verwesung übergegangen. Bei den Toten handelt es sich weder um Gangi noch um Angehörige irgendwelcher anderen Djiin-Nationen, sondernum Weiße, weiße Männer in Soldatenuniformen, zumindest diejenigen, die nicht nackt ausgezogen und in Stücke zerhackt wurden, und als Graf taumelnd diese entsetzliche, ekelerregende Masse abgeschlachteter Leiber umkreist, entdeckt er unter den Toten auch seinen alten Freund Ernesto Land – er liegt auf dem Rücken, in der Stirn ein Einschussloch, auf seinem halbzerfressenen Gesicht wimmeln Fliegen und Maden. Wir wollen nicht bei Grafs Reaktion auf diesen Horror verweilen: wie er kotzt und weint und sich heulend die Kleider zerreißt. Wichtig ist nur Folgendes. Seine Begegnung mit dem wahnsinnig gewordenen Soldaten hat vor zwei Wochen stattgefunden, und daraus muss er schließen, dass das Massaker erst in jüngster Zeit begangen worden sein kann. Wichtig ist aber vor allem dies: Er hat keinen Zweifel, dass Land und seine Männer von den Djiin ermordet wurden.
    Mr.   Blank unterbricht sich, um wieder einmal aufzulachen, diesmal vielleicht etwas zurückhaltender als vorhin, aber immer noch ausdrucksstark genug, um gleichzeitig Freude und Verbitterung zu vermitteln, denn sosehr es ihn befriedigt, die Geschichte nach seinem eigenen Plan umgeformt zu haben, weiß er doch sehr genau, was für eine grausame Geschichte das ist, und ein Teil von ihm schreckt entsetzt vor dem zurück, was er noch zu erzählen hat.
    Aber Graf irrt sich, sagt er. Graf weiß nichts von dem finsteren Komplott, in das er hineingezogen wird. Er istder dumme August, wie man so sagt, der Einfaltspinsel, den die Regierung losgeschickt hat, um das Räderwerk in Gang zu setzen. Sie wissen alle Bescheid   – Joubert, das Kriegsministerium, De Vega, die ganze Bagage. Ja, Land
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