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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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ausgesucht. Trotz allem, was hier vorgeht, haben Sie uns an einem schönen Ort versammelt. Dafür bin ich Ihnen dankbar.
    Warum lassen Sie mich dann nichts davon sehen? Ich kann nicht mal das verdammte Fenster aufmachen.
    Das dient nur zu Ihrem Schutz. Sie wollten in die oberste Etage, aber wir können kein Risiko eingehen.
    Ich werde nicht Selbstmord begehen, falls Sie das meinen.
    Das weiß ich. Aber nicht jeder teilt meine Meinung.
    Also wieder einer Ihrer Kompromisse, wie?
    Zur Antwort zuckt Quinn mit den Schultern und sieht auf seine Uhr.
    Die Zeit läuft uns davon, sagt er. Ich habe die Prozessakten eines Falles mitgebracht, und ich finde, wir sollten uns jetzt damit befassen. Es sei denn, natürlich, Sie sind zu müde. Wenn es Ihnen lieber ist, komme ich morgen wieder.
    Nein, nein, antwortet Mr.   Blank und wedelt empört mit einem Arm. Bringen wir es jetzt gleich hinter uns.
    Quinn schlägt den obersten Ordner auf und entnimmt ihm vier Schwarzweißfotos, Format zwanzig mal fünfundzwanzig. Er schiebt sich auf dem Stuhl nach vorn, reicht sie Mr.   Blank und sagt: Benjamin Sachs. Klingelt da was bei Ihnen?
    Ich glaube schon, erwidert der alte Mann, aber ich bin mir nicht sicher.
    Das ist ein übler Fall. Einer der schlimmsten, um genau zu sein, aber wenn wir gegen diesen Punkt der Anklage eine starke Verteidigung auffahren können, schafft uns das womöglich einen Präzedenzfall für die anderen. Können Sie mir folgen, Mr.   Blank?
    Mr.   Blank nickt schweigend, während er sich bereits die Bilder ansieht. Das erste zeigt einen großen, schlaksigen Mann von etwa vierzig Jahren, er hockt auf dem Geländer der Feuertreppe eines Hauses, vermutlich in Brooklyn, und schaut in die Nacht hinaus – aber schon nimmt Mr.   Blank das zweite Foto, und plötzlich hat derselbe Mann den Halt verloren und fällt von dem Geländer in die Dunkelheit, eine Silhouette verrenkter Gliedmaßen mitten in der Luft, die auf den unten zu sehenden Erdboden zustürzt. Das ist schon sehr beunruhigend, aber erst als Mr.   Blank sich dem dritten Foto zuwendet, durchfährt ihn ein Schauder des Erkennens. Der große Mann steht auf einem Feldweg irgendwo in der Landschaft und schlägt mit einem metallenen Softballschlägernach einem bärtigen Mann, der vor ihm steht. Das Bild erfasst genau den Augenblick, in dem der Schläger auf den Kopf des Bärtigen trifft, und aus dem Gesichtsausdruck des Mannes kann man nur schließen, dass der Schlag ihn töten wird: Binnen Sekunden wird er mit eingeschlagenem Schädel zu Boden stürzen, und das Blut wird aus der Wunde schießen und sich zu einer großen Lache um seinen Leichnam sammeln.
    Mr.   Blank greift sich mit allen Fingern ins Gesicht. Er bekommt kaum noch Luft, denn er weiß bereits, was das vierte Foto zeigen wird, auch wenn er sich nicht daran erinnert, wie oder woher er das weiß, und da er die Explosion der selbst gebastelten Bombe voraussehen kann, die den großen Mann in Stücke reißen und seinen zerfetzten Körper in alle vier Winde verstreuen wird, bringt er nicht mehr die Kraft auf, sich dieses Bild anzusehen. Stattdessen lässt er die vier Fotos aus seinen Händen auf den Boden fallen, nimmt eben diese Hände vor sein Gesicht, vor seine Augen, und bricht in Tränen aus.

 
    Quinn ist gegangen, und wieder einmal ist Mr.   Blank allein in dem Raum und sitzt mit dem Kugelschreiber in der rechten Hand am Schreibtisch. Die Tränenflut ist bereits vor über zwanzig Minuten versiegt, und während er den Notizblock auf der zweiten Seite aufschlägt, sagt er sich: Ich habe nur meine Arbeit getan. Auch wenn esschlecht ausging, musste ein Bericht geschrieben werden, und dass ich die Wahrheit gesagt habe, kann man mir doch wohl nicht vorwerfen, oder? Dann wendet er sich dem aktuellen Thema zu und ergänzt seine Liste um drei weitere Namen:
    John Trause
    Sophie
    Daniel Quinn
    Marco Fogg
    Benjamin Sachs
    Mr.   Blank legt den Kuli hin, klappt den Block zu und schiebt die beiden Gegenstände beiseite. Er erkennt jetzt, dass er sich einen Besuch von Fogg erhofft hatte, dem Mann mit den lustigen Geschichten, aber auch wenn es keine Uhr in dem Raum gibt und er auch keine am Handgelenk hat – und er mithin nicht wissen kann, wieviel Uhr es ist, nicht einmal annähernd   –, ahnt er, dass die Stunde für Tee und leichte Unterhaltung vorüber ist. Vielleicht kommt bald schon wieder Anna und bringt ihm das Abendessen, und sollte nicht Anna kommen, sondern eine andere Frau oder ein Mann als
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