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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium
Autoren: Paul Auster
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(Lehmboden, dicke gemauerte Wände) schließe ich, dass es früher als Lagerraum für Lebensmittelvorräte gedient hat, vielleicht für Mehl- und Getreidesäcke. Oben an der nach Westen gelegenen Wand gibt es ein einzelnes vergittertes Fenster, aber es ist so weit vom Boden entfernt, dass ich nicht mit den Händen heranreichen kann. Ich schlafe auf einer Strohmatte in einer Ecke, und täglich werden mir zwei Mahlzeiten gebracht: morgens kalter Haferbrei, abends lauwarme Suppe und hartes Brot. Nach meinen Berechnungen bin ich seit siebenundvierzig Nächten hier. Diese Zählung könnte jedoch falsch sein. An den ersten Tagen in der Zelle wurde ich viele Male geschlagen, und da ich mich nicht erinnern kann, wie oft ich das Bewusstsein verloren habe – und wie lange diese Ohnmachten anhielten   –, kann es sein, dass ich mich verzählt und nicht genau mitbekommen habe, wann die eine Sonne auf- oder die andere untergegangen ist.
    Die Wüste beginnt unmittelbar vor meinem Fenster. Immer wenn der Wind aus Westen weht, rieche ich Salbei und Wacholder, die Minima dieser dürren Weiten. Ich habe da draußen ganz allein fast vier Monate lang gelebt, die Gegend von einem Ort zum anderen durchstreift, bei jedem Wetter im Freien geschlafen, und es ist mir nicht leichtgefallen, aus der Offenheit jenes Landesin die engen Grenzen dieses Raumes zurückzukehren. Erzwungene Einsamkeit und den Mangel an Unterhaltung und menschlichem Kontakt kann ich ertragen, aber ich verzehre mich danach, wieder Luft und Licht um mich zu haben, und hege tagein, tagaus nur den Wunsch, etwas anderes sehen zu können als diese schartigen Mauern. Ab und zu gehen unter meinem Fenster Soldaten vorbei. Ich höre das Knirschen ihrer Stiefel auf dem Boden, das unregelmäßige Lautwerden ihrer Stimmen, den Lärm von Karren und Pferden in der Hitze des unerreichbaren Tags. Das hier ist die Garnison bei Ultima: äußerster Westzipfel der Konföderation, am Rand der bekannten Welt. Wir befinden uns hier mehr als dreitausend Kilometer von der Hauptstadt entfernt, vor uns die unvermessenen Horizonte des Fremden Territoriums. Nach dem Gesetz darf niemand dort hinausgehen. Ich habe es getan, weil ich den Befehl dazu hatte, und jetzt bin ich zurück, um meinen Bericht abzuliefern. Man wird mich anhören oder auch nicht, und dann wird man mich nach draußen bringen und erschießen. Dessen bin ich mir jetzt ziemlich sicher. Es ist wichtig, dass ich mir nichts vormache und der Versuchung widerstehe, Hoffnung aufkeimen zu lassen. Wenn sie mich an die Wand stellen und ihre Gewehre auf meinen Körper richten, werde ich sie nur darum bitten, mir die Augenbinde abzunehmen. Nicht dass ich ein Interesse daran hätte, die Männer zu sehen, die mich töten werden, aber ich möchte noch einmal den Himmel sehen können.Das ist jetzt mein einziger Wunsch. Im Freien zu stehen und in den unermesslichen blauen Himmel über mir zu blicken, ein letztes Mal in die brüllende Unendlichkeit zu schauen.

 
    Mr.   Blank hört auf zu lesen. An die Stelle seiner Angst ist Verwirrung getreten, und obwohl er jedes Wort des Textes versteht, hat er keine Ahnung, was er daraus machen soll. Ist das ein Tatsachenbericht, fragt er sich, und was genau ist die Konföderation mit ihrer Garnison bei Ultima und den rätselhaften Fremden Territorien, und warum klingt diese Prosa, als stamme sie aus dem neunzehnten Jahrhundert? Mr.   Blank ist sich durchaus bewusst, dass sein Kopf nicht arbeitet wie gewohnt, dass er über seinen Aufenthaltsort und den Grund seines Hierseins völlig im Dunkeln tappt, hält es aber für einigermaßen ausgemacht, dass der gegenwärtige Augenblick irgendwo am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts liegt und dass er selbst in einem Land lebt, das Vereinigte Staaten von Amerika heißt. Dieser letzte Gedanke erinnert ihn an das Fenster oder, genauer gesagt, an die Jalousie davor, an der ein weißer Klebstreifen mit dem Wort JALOUSIE befestigt ist. Die Fußsohlen auf den Boden und die Arme auf die Lehnen des Ledersessels gepresst, schwenkt er um neunzig bis hundert Grad nach rechts, um einen Blick auf besagte Jalousie zu werfen – denn der Stuhl bietet nicht nur die Möglichkeit,auf ihm zu schaukeln, sondern lässt sich auch um seine senkrechte Achse drehen. Diese Entdeckung erfreut Mr.   Blank so sehr, dass er vorübergehend vergisst, warum er sich die Jalousie ansehen wollte, und stattdessen in dieser bisher unbekannten Eigenschaft des Sessels schwelgt. Er dreht sich einmal
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