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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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Frühgeburt aus der Taufe gehoben.«
    Ann setzte sich auf, strich ihre Bluse gerade:
    »Du hast eine anständige Mutter! Und jetzt geh nach oben und hole Deinen Vater herunter. Vielleicht schmollt er, er tut das immer öfter. Also bestehe darauf, dass er zu uns herunterkommt, Du wirst ihm gut tun, besser als diese Liebedienerei von dem Nervenklempner.«
    Anton nahm die Treppe mit wenigen Sprüngen und blieb vor der Tür des alten Mannes stehen, klopfte energisch:
    »Vater, mach auf! Du brauchst Dich nicht einzuschließen, ich komme wegen Dir, hörst Du mich?«
    Er hatte sein Ohr an die Türe gelegt, horchte angestrengt:
    »Bitte, öffne, ich freue mich auf Dich, wir wollen Dir alle gut.«
    Endlich vernahm er die Stimme von innen:
    »Warum kommst Du nicht herein, die Tür ist offen.«
    Er trat ein, erkannte nur mühsam seinen Vater ausgestreckt auf dem Bett im Dunkeln des Raumes:
    »Warum liegst Du hier im Finstern, Vater? Oder wolltest Du schon schlafen?«
    Der Alte erhob seinen Oberkörper:
    »Schau genau hin, mein Sohn! Ich pflege nicht im Anzug und Krawatte zu schlafen, aber vielleicht kommt das noch, wer weiß? Aber heute nicht. Nein, ich wollte mich nur ein wenig ausruhen, den Augen eine Entspannung gönnen.«
    »Kommst Du herunter? Mutter erwartet Dich. Wir wollten doch ein Glas Wein trinken.«
    Albert setzte sich auf, streckte seinen Rücken und gab seinem Sohn die Hand:
    »So, wollten wir das? Wenn Du es sagst, wird es so sein. Und Du meinst nicht, dass Ihr lieber zu zweit sein wollt? Ich möchte nicht stören. Und weißt Du: Ich habe immer zu denken, es wird immer schlimmer damit.«
    »Welch späte Einsicht, Vater! Jeder sagt es: Du grübelst zu viel, entwickelst Dich langsam zum gedanklichen Tausendfüßler, der vor lauter Beinchen sich schwer tut, den Weg zu finden.«
    »Meinst Du? Aber welchen Weg meinst du, ich verstehe Dich nicht. Ich weiß nicht, ob ich noch einen Weg vor mir habe. Es fühlt sich für mich so an, als wäre ich längst am Ziel, schon da. Man tritt auf der Stelle, sicher, dreht sich im Kreise, mal lustig, mal traurig: so wie ein alter Tanzbär, der im Zirkus auftritt.«
    Der Sohn nahm ihn mit festem Griff bei der Hand, lachte abermals auf:
    »Was für eine blühende Phantasie Du hast! Nur klingt alles so wenig heiter, viel zu melancholisch. Und jetzt: komm! Wir gehen runter, bitte, die Mutter wartet schon ungeduldig. Lass uns ein wenig fröhlich sein!«
    Albert lächelte verschmitzt:
    »Gut, sind wir fröhlich! Wenn Du mir keine andere Wahl lässt, sind wir fröhlich!«
    Der Abend, nachdem sie am Esszimmertisch Platz genommen hatten, zog sich in die Länge. Anton war auf Wunsch seines Vaters in den Weinkeller gestiegen und mit einem Burgunder wieder aufgetaucht. Der alte Mann kostete als Erster:
    »Wir haben zu lange gewartet! Der Wein ist nicht mehr, der er sein sollte! Die Kraft ist heraus, er ist nur noch ein Schatten seiner selbst.«
    Anton schenkte seiner Mutter, die Nüsse und Rosinen reichte, nach, nahm einen großen Schluck:
    »Ach Papperlapapp! Der Wein ist der alte, er schwächelt in keiner Weise, hat im Gegenteil eine wunderbare Reife. Wie die Mutter, wir sollten sie hochleben lassen.«
    Die Gläser stießen zusammen, es klirrte im Raum, wie zu früheren Zeiten. Albert sagte:
    »Du bist ein guter Sohn, Anton!«
    »Bravo!« rief Ann.
    Der alte Mann lag unruhig im Bett, die Nachttischlampe brannte noch, warf große Schatten auf die Wand. Warum kann ich nicht sprechen? dachte er, meine Unfähigkeit mich mitzuteilen . . . liegt es daran, weil ich misstrauisch geworden bin, wie eingekerkert? Wie ist es so weit gekommen? Sind es die anderen? Ann und Anton beispielsweise? Habe ich Angst, dass sie nicht hören wollen, was ich ihnen zu sagen habe? Es kommt ihnen vielleicht merkwürdig, abseitig vor oder schlimmer: ohne jeden Belang, bedeutungslos, lächerlich. Was ist diese Angst vor der Angst? Diese unbegreifliche, unergründliche Angst, die sich auf nichts Fassbares bezieht, die einfach nur da ist, sinnlos, wesenlos, nicht zu packen. Oder habe ich mich selbst eingekerkert, aus Stolz, aus Dummheit, aus mangelnder Liebe. Wo sie doch da war, zur Tochter, zum Sohn. Sollte ich noch einmal hinuntergehen und ihnen sagen: Die Liebe ist noch da. Sie ist noch nicht erloschen. Holen wir sie doch herauf aus dem Keller wie die Flasche Burgunder, der trotz seines hohen Alters so köstlich schmeckt. Wegen seines Alters. Anton hat es doch gesagt, und Ann hat dazu genickt. Werden sie mich auslachen?
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