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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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bestimmt:
    »Lass uns hineingehen!«
    Der alte Mann blieb einige Schritte zurück, dachte:
    Was soll ich tun? Sie will mich nicht, sie glaubt mir nicht!
    Ann wandte sich nach ihm um, versuchte für einen Augenblick ihren angestrengten Gesichtsausdruck zu lösen:
    »Ich habe schlecht geschlafen, vielleicht zu viel vom Rotwein. Unser Herr Sohn, der Bruder Leichtfuß, schenkt immer üppig nach. Ich fühle mich nicht wohl, bitte verzeih.«
    Im Haus zurück setzte sie sich neben ihn auf das kleine Sofa in der Bibliothek. Sie atmete tief, mehrmals. Er wusste, eine wichtige Mitteilung stand bevor. Kaum etwas Erfreuliches, auch ihr Gesichtsausdruck wurde ernster, noch ernster.
    »Albert, Du weißt, Mary hat mir geschrieben, jetzt schon zweimal. Heute hat sie in aller Früh angerufen, ihre Stimme war kaum zu hören. Sie ist aus dem Krankenhaus zurück, es sieht so aus: Der Krebs ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Ich habe auch mit ihrem Arzt gesprochen, er hat mir die Lage ausführlich erklärt, aber es scheint klar, sie haben sie aufgegeben. Die Lunge ist so gut wie aufgefressen.«
    »Deine arme Schwester«, warf er dazwischen, »sollen wir sie nicht besuchen, wir beide, ihre Tage ein wenig aufhellen?«
    Sie musterte ihn aufmerksam von der Seite:
    »Meinst Du wirklich? Du denkst, Du könntest sie aufmuntern?«
    »Ja warum nicht? Du weißt, ich habe sie immer sehr geschätzt. Was für ein entzückendes junges Mädchen war Mary, als wir geheiratet haben, immer zu Späßen aufgelegt, Deine kleine Schwester, erinnerst Du Dich nicht?« »Wie gestern, mein Lieber!« Ann lachte: »Du hast ganz ungeniert mit ihr geflirtet, bei jeder Gelegenheit. Und getanzt habt Ihr die ganze Zeit . . .«
    »Ja, vor allem den Walzer, den beherrschte sie wie keine andere. Sie ließ sich führen, ja, führen wie eine Feder. Ihr Einfühlungsvermögen . . .«
    »Albert, Albert! Komm zu Dir! Das ist über vierzig Jahre her. Jetzt ist Deine Walzertänzerin todkrank, liegt im Sterben. Es hat sich ausgetanzt. Der Walzer ist zu Ende, er ist schon lange . . .«
    Jetzt atmete er schwer:
    »Ich weiß, ich weiß . . . Und sie allein. War sie nicht ihr Leben lang allein?«
    »Mary hat nie geheiratet, wenn Du das meinst. Wir Mädels waren selbständige Frauen. So hat uns unser Vater erzogen. Aber sie, sie hat anders als ich ihr Leben genossen: Denk an die Reihe ihrer Liebschaften. Jedesmal tauchte sie schöner, blühender wieder auf: Eine Siegerin! Sie war die erste von uns Freundinnen, die über ihre Männer sprach, offen, ja, hemmungslos, ihre Lust hat sie geradezu vor uns ausgebreitet, hat alle Einzelheiten noch einmal ausgekostet. Und uns, die Verheirateten, die dummen Gänse, hat sie rasend eifersüchtig mit ihren Bettgeschichten gemacht. Ich hätte es niemals gekonnt, mich so über das da auszubreiten. Mir wäre auch nicht viel zu dem Thema eingefallen, denke ich. Aber jetzt, jetzt hat sie die Quittung bekommen!« Albert war aufgesprungen wie lange nicht mehr, es hielt ihn nicht mehr neben ihr:
    »Da gibt es keinen Zusammenhang! Das meinst Du nicht wirklich, Ann?«
    Sie war in sich zusammengesunken, hatte die Augen geschlossen. Mit schwacher Stimme:
    »Nein, ich weiß, Albert. Verzeih, Mary! Solche Gedanken gehören in den Beichtstuhl, verzeih! Meine Nerven sind mit mir durchgegangen, die Erinnerung an die junge Mary von damals hat mich wohl völlig durcheinandergebracht, offenbar einen unterdrückten, vergessenen Teil in mir aufgeweckt. Ja, die Gute, sie hat ihre Leidenschaft ausgelebt, offen, stolz: Und sie wurde durch Glanz, Schönheit und Reichtum belohnt. Erinnere Dich nur: Eduardo, der große Tenor, sie reisten von Stadt zu Stadt! Und Heribert, der Banker aus London: was für eine blendende Erscheinung! Ich gönne es ihr, glaubst Du mir Albert? Bitte glaube mir!«
    Er saß wieder an ihrer Seite, hatte ihre Hand ergriffen, rückte näher zu ihr. Nach Minuten hörte er ihre Stimme, wieder gefasst:
    »Aus, vorbei, vergangen! Wir müssen uns der Gegenwart stellen. Ich habe alles durchdacht, fest geplant: Ich glaube, es ist keine gute Idee, dass Du mit mir reist. Ich weiß Deine Absicht zu schätzen, sicher, und ich danke Dir. Aber ich sollte, wenn ich einmal bei ihr bin, ganz für sie da sein. Sei mir nicht böse, Albert, auch Du brauchst Fürsorge, aber zwei Patienten wären mir dann doch zu viel. Jetzt ist Mary dran, sie leidet am meisten, sie ist die, die dem Tod am nächsten steht. Ich habe lange genug gezögert, wegen Dir, Albert, ich wollte Dich hier
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