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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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beanstandet. Er überlegte, ob er das Hemd ausziehen soll, ein neues Hemd überstreifen, wie es sich gehört, oder einfach den neuen Tag im alten Hemd beginnen. Er könnte sein Gesicht waschen, die Hände, die Zähne putzen, nach mehr steht ihm nicht der Sinn. Er war früh aufgestanden, früher als sonst, es war eben erst hell geworden. Nur mit dem alten Hemd bekleidet ging er hinunter, wie er es als junger Mann tat, schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche ein. Der Kaffee schmeckte schal, aber er mochte ihn so, wie er war. Er saß in der Küche, wanderte dann durchs Haus, stieß ohne anzuklopfen die Türe zu Anns Schlafzimmer auf, sah sich im Raum um, betrachtete die Fotografien in Silberrahmen, ihre Eltern, die Kinder, die Enkelkinder, Jugendfotos, die Schwester, auch er, das Hochzeitsfoto!
    Er wurde mehr und mehr gewahr: Er war allein im Haus. Alles hatte sich verändert, es schmeckte, roch anders, irgendwie neu. Die Wände waren weiter fortgerückt, die Decke höher. Er hörte unbekannte Geräusche, das Tropfen des Wassers in der Küche, das Summen im Boiler, den Schrei eines Kindes, der durch die Fensterscheiben drang, ja, alles war lauter als sonst. Nein, es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, es war ihm, als sei die Einsamkeit leichter zu ertragen. Er hörte ein Auto auf der Straße, das Quietschen von Bremsen. Und öffnete das Küchenfenster: Ob etwas passiert war? Es ist wunderbar, sein Reich für sich alleine zu haben, er ist Herr der Zeit, neugierig auf den Tag. Er wird tun, wozu er Lust hat, vielleicht nur dasitzen, in seinem Lehnstuhl in der Bibliothek, auf der Gartenbank draußen, wenn das Wetter es erlaubt, er wird nichts tun. Keiner wird ihn stören. Er wird essen, nicht wenn es an der Zeit ist, sondern wenn er hungrig ist, vielleicht weniger zu sich nehmen oder sogar mehr. Niemand wird ihn drängen zu reden. Er wird die Zeit in die Ferien schicken. Nein, er ist nicht krank, ein wenig älter, wie es sich gehört, ein wenig langsam, aber nicht krank. Er teilt seine Kräfte ein, er kommt bestens zurecht, er möchte es nicht anders.
    Ob Ann wohl gut geschlafen hatte? Die Zugfahrt, wie sie wohl verlaufen war, mit den zwei Stationen, an denen sie umsteigen musste. Er versuchte sich das hübsche Haus der Schwägerin vorzustellen, dort am Rande der Kleinstadt, wo sie sich endgültig niedergelassen hatte nach ihrem bewegten Leben. Er war zu lange nicht mehr dort gewesen. Ein letzter Kavalier hatte sie dorthin gelockt, ein pensionierter Professor, wohl ein Fehlschlag, ein aufrechter, aufgeräumter Herr alter Schule, wie man ihn heute nicht mehr findet, aber zu wenig kurzweilig auf die Dauer und schon lange unter der Erde. Er konnte sich kein Gesicht vorstellen. Später würde Ann anrufen, er würde alles erfahren und ihr sagen, wie sehr sie ihm fehlte.
    Er räumte ein wenig sein Zimmer auf, was ihn an seine Studentenzeit erinnerte, als er seine »Bude« oft im schönsten Chaos zurückgelassen hatte, das Bett zerwühlt, der Schreibtisch überladen mit Papieren, mit Heften und Büchern, die durcheinander flatterten, die Kleider von gestern wahllos über das Zimmer verteilt, die Socken der Freundin vom Wochenende noch auf dem Boden. Er lachte, warf die Bücher vom Bett hinunter, dorthin, wo keine fremden Socken mehr lagen. Unten in der Bibliothek sichtete er aufmerksam die Bücherrücken. Titel, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, Bücher, die er mit Sicherheit nicht mehr anfassen würde, Bücher, die sein Interesse hervorriefen. Er nahm einige in die Hand, las ein paar Zeilen, ein neuer Blick tat sich auf, neues Leben. Und ein Blick zurück. Manch Altes, das sich bewährt zu haben schien, schmeckte schal, anderes fremd. Aber er hatte doch etwas versäumt, gestern, das er heute nachholen konnte, wollte. Er wanderte weiter ins nahe Esszimmer und setzte sich an seinen Platz, ganz oben an seinen Tisch, den er zur Überraschung von Ann zu ihrem vierzigsten Geburtstag erworben hatte, um endlich Platz für die ganze Familie, für die Freunde, Platz für eine große Runde, für ein Festmahl zu haben. Heute war es still. Er liebte die Stille, er saugte sich voll damit. Er breitete sich an seinem angestammten Platz aus, den ihm niemand streitig machte. Er erhob sich, klopfte auf den Tisch, dehnte feierlich den Oberkörper, die Hände am Stuhlrücken, und sah in die Runde. Schweigen um ihn, neugierige, andächtige Blicke: Alle warteten mit Spannung, mit Ehrfurcht auf seine Worte, auf das, was er
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