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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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Einsamkeit war, mein Gott, alles andere als selbst gewählt. Sie wehrte sich immer heftiger, mit Händen und Füßen, verweigerte jedwede Hilfe von außen, erst zögerlich, dann vorbehaltlos. Die letzten vehementen Ausbruchsversuche, die überstürzten Reisen in die Karibik zu den Cayman-Inseln oder südlich vom Atlas, hoch hinaus in den Norden zum ewigen Eis. Das verzweifelte Fallen in die Arme fremder Männer aus anderen Kontinenten. Sie klammerte sich doch so sehr ans Leben, nahm, was sich ihr bot, suchte Halt, klammerte sich noch am Abgrund an jeden Stein oder Ast, den sie zu fassen bekam. Und alles vergeblich, vergeblich . . . Es blieb kein Halt. Hatte sie wirklich zu ihm gesagt: Du bist mir der Nächste, ein scheues Lächeln in den Augen? Hatte sie es so gemeint? Aber damals war sie fast noch ein Kind.
    Er atmete tief. Die Musik schien lauter zu werden, eine Brise Wind trug sie zu ihm hinüber, er klatschte wieder in die Hände, versuchte den Takt einzufangen.
    Was ist mit mir? dachte er, habe ich mich in sie verfangen? So hat es Ann wohl gemeint: Überlass sie ihrer Ruhe! Hatte nicht Erwin zu ihr gesagt: Wir bemühen uns? Waren diese Worte nicht mehr an ihn gerichtet als an Ann, die keiner Ratschläge bedurfte, die ihres Weges immer so sicher war? Das Trauerjahr ist längst herum, es ist ein zweites gefolgt, das dritte geht ins Land. Mit ihr war ein Teil von ihm gestorben, das ist es, das ist der Kern. Ich habe sie mehr geliebt als mich selbst, das ist meine Schuld, die meiner Maßlosigkeit. Wenn dies richtig ist, dachte er, dann trauere ich vielleicht weniger um sie als um den Teil meines Selbst, den sie mit ins Grab genommen hat, sicher der beste Teil.
    Der abendliche Himmel hatte sich verfinstert, die Musik in der Ferne brach jäh ab. Er eilte zurück zum Haus:
    Vor welchem Unwetter muss ich mich schützen, dachte er, wovor galt es sich in Sicherheit zu bringen? Was hatte er, der alte, kranke Mann, noch wirklich zu verlieren? Angst vor dem Tod? Er und Angst vor dem Tod? War das nicht lächerlich? Glorie war ihm vorausgegangen, wäre es nicht eine Freude, ihrem Licht nachzufolgen? Dann wäre er die Last seines Lebens los, das ihn drückte, ihn beschwerte.
    Der Verlust von Glorie lud ihn ein in eine Unendlichkeit, die für ihn, wenn überhaupt, kaum fassbar war, die er bestenfalls in kurzen Augenblicken erahnte. Aber der Körper, der ihn umfing, dieser alte, verbrauchte Körper, zerrte an ihm, schmerzte. War seine Seele Glorie gefolgt, schon vorausgegangen? Und war der Rest, der geblieben war, nur Wiederholung, Erstarrung, Einsamkeit, tote Hülle? Die anderen sahen ihn, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Aussätzigen, als Überfälligen, als Verwesenden, der auf seinen Abruf wartete. Warum war er so bitter und gekränkt? Niemand hatte ihn beleidigt, ihm Leid zugefügt. Er war es selbst, der seine Umgebung, seine Familie an erster Stelle, geradezu einlud, ihn mit Nachsicht, mit Mitleid zu behandeln. Die dann hinter vorgehaltener Hand über ihn sprach und ihre Bedenken austauschte. Wenn Glorie der Auslöser gewesen war, seine Erschütterung, aus der er sich so schwer löste, so hatte sich die Ursache längst verflüchtigt, selbständig gemacht. Zurück blieb er als der Betroffene, der Anteilnahme einforderte, um Aufmerksamkeit bettelte, verpackt in einen unheilvollen, uneinnehmbaren Stolz, der durch nichts, aber durch gar nichts gerechtfertigt war. Seine früheren Leistungen, soweit überhaupt von Wert, in seinen Geschäften, in der Welt, in der Familie, waren längst verblasst, verdunstet, wie die Tropfen lauen Sommerregens in der Sonnenglut. Der strahlende Held mit dem Orden an der Brust! War er es? Was auch immer: vertan, vorüber, vorbei. Wer erinnerte sich, wo er sich doch selbst so schwer tat, das Gewesene in seinen ärmlichen Resten, wenn überhaupt noch aufspürbar, zu packen, um es sich und den Seinen noch einmal zu zeigen?
    Am Abend saß das Paar still bei Tisch. Es gab kalten Fisch, etwas Salat, danach Obst, dazu einen leichten Wein, einige Tropfen nur zum Wasser. Endlich brach Ann, die wie er in sich versunken schien, das Schweigen: »Erzähl von Erwin. Was ist mit ihm? Er scheint guter Dinge.«
    »So ist es, warum soll er es nicht sein! Wir schwätzen nettes Zeug, nichts Weltbewegendes. Die Psychologie, den ganzen Krimskrams haben wir hinter uns gelassen, Gott sei Dank.«
    »Vergiss nicht, er hat Dir einmal viel gegeben, es ist noch gar nicht so lange her.«
    »Er war der Betreuer von Glorie, ihr
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