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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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doch, bitte, Albert, wir alle hier warten auf Dich. Die Kinder freuen sich schon so sehr auf das Lamm.«
    Ihm war der prüfende Blick von Anton nicht entgangen, die Jungens kicherten. Er sagte zu Anton: »Ich hoffe, das nächste Mal kommt Ihr wieder alle zusammen! Lori war nun schon seit Wochen nicht mehr hier. Sie soll sich auch für uns Zeit nehmen . . .«
    Anton schien ungehalten, nicht zu Späßen aufgelegt. Der alte Mann sah die zusammengezogenen Augenbrauen seiner Frau, den strafenden Blick, das langsame Öffnen ihres Mundes:
    »Schön, Albert, sie fehlt uns heute, sicher, aber auch dafür müssen wir Verständnis aufbringen. Die Welt von heute hat die Engstirnigkeit von uns gestern abgestreift, Toleranz ist an deren Stelle getreten. Jeder hat Anspruch auf Selbstverwirklichung . . . Aber lasst uns den schönen Tag nicht unnötig belasten. Lasst uns fröhlich sein!«
    Abends stand er im Badezimmer und versuchte die Hemdknöpfe zu öffnen. Aber seine Finger waren ohne Kraft, flatterten wieder wie wild. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, den man eigens für ihn in den engen Raum gezwängt hatte. Die Hose war zu Boden gerutscht, lag zwischen seinen Knöcheln. Er bückte sich, um seine Füße zu befreien, zerrte ungeduldig an den Hosenbeinen, bis sie nachgaben und er die verknitterte Hose unschlüssig in seinen Händen hielt. Sollte er nun aufstehen und sie draußen in den Vorraum auf den stummen Diener hängen oder wäre es nicht einfacher, sie wieder fallen zu lassen und diese dummen Hemdknöpfe, die heute so widerspenstig waren, zu öffnen? Er hörte ihre Schritte.
    »Aber, Liebling, warum rufst Du mich nicht? Du bist heute früher dran, das kann ich doch nicht ahnen. Ich helfe Dir gerne, wie oft habe ich Dir das versichert. Du brauchst mich doch!«
    Er hörte den Vorwurf. Ann stand neben ihm, im Nu war das Hemd aufgeknöpft.
    »Ich wollte es selbst machen, ich benötige nur etwas Zeit.«
    »Gib zu, dass Du es nicht mehr allein schaffst, es braucht eine Ewigkeit.«
    »Es kommt auf den Tag an, meistens brauche ich keine Hilfe. Ich komm schon allein zurecht.«
    »Warum bist Du so störrisch! Ist es so schwer, sich helfen zu lassen? Sei nicht so ein Dickkopf.«
    Er krächzte, kratzte sich am Kopf: »Was weißt Du!«
    Sie hielt ihm seinen Pyjamaanzug hin, hob die Hose auf und stützte ihn auf seinem Weg hinüber zum Schlafzimmer:
    »Warum musstest Du Lori erwähnen? Du weißt doch, dass so eine Frage Anton kränken muss. Und vor den Jungen . . .«
    »Warum holt er sie nicht zurück? Ich denke, sie sind verheiratet.«
    Er lag bereits in seinem Bett, Ann hatte sich an seine Seite gesetzt:
    »Versteh doch, die Zeiten haben sich geändert. Die Frauen lassen sich heute nicht mehr so vorführen, wie wir früher. Heute bringt niemand mehr ein Opfer, wie wir damals.«
    War schon wieder ein Vorwurf in ihrer Stimme?
    Der alte Mann starrte zur Decke empor: »Vielleicht hast Du recht. Wir Männer haben immer zuerst an uns selbst gedacht, das hat sich alles geändert. Alles ändert sich. Das meinst Du doch, Ann.«
    Sie streichelte über seine Stirn und lächelte müde:
    »Vielleicht mein Lieber. Mein Leben ist einfach so an Deiner Seite vorbeigegangen.«
    »Ich muss jetzt schlafen, Ann.«
    »Du solltest schlafen. Ich lösche das Licht und lasse wie immer die Tür einen Spalt offen, dass Licht zu Dir hinüber kommt.«
    »Ich bin kein Kind.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    Seine Hand, ruhig und fügsam, tastete sich zum Lichtschalter, streckte sich bis zum Bord, tastete nach den Heften: Glories Tagebücher. Der alte Mann strich sich über die Augen: »Glorie, dreizehn Jahre«, flüsterten seine Lippen. Die Finger glitten über das wellige Papier, über die ungelenke Handschrift. Die Buchstaben tanzten vor seinem Blick. Ganze Seiten hätte er auswendig aufsagen können. Und dennoch las er die Notizen immer wieder, wie man nicht müde wird, einen Schatz zu betrachten, wieder und wieder, mit unentwegter Freude, mit pochendem Herzen. Manche Stellen liebte er besonders:
    »Streit mit Mami, sie kann so fürchterlich rechthaberisch sein. Sie ist mir auf den linken Fuß getreten, dass ich aufschrie, sie behauptete, es sei aus Versehen geschehen. Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll. Nein, ich glaube ihr nicht. Aber das ist es ja: Auch sie glaubt mir nicht. Es ist nicht mehr wie früher. Später kam Papi nach Hause, er ist sofort zu mir und hat mich getröstet, hat mich umarmt und mich geküsst. Er versteht mich. Bin ich glücklich,
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