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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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ihn das geheilt. Ihr das sagen, ein anderer hätte ihn nicht verstanden, Anton schon gar nicht. Ann vielleicht. Aber sie war krank damals, ihre Hüfte schmerzte, die Operation, der lange Heilungsprozess, sie brauchte seine Hilfe. Warum habe ich immer geschwiegen? Nie von mir selbst gesprochen. Ja, die Erfolge im Geschäft, ja. Gute Nachrichten kamen ihm leicht über die Lippen: die Hochzeit damals, die Geburt von Anton und später von Glorie, ihre guten Schulzeugnisse, die von Anton, das Verdienstkreuz, das ihm der Ministerpräsident an die Brust heftete, dann als er damals in Griechenland den kleinen Jungen, dessen Gesicht schon ganz blau war, aus dem Meer zog und dessen Mutter ihm die Hände vor Dankbarkeit küsste, ihm das Kreuz über die Stirn schlug. Aber seine Zweifel? Seine Ängste? Seine Einsamkeit? Ganz früher, ja, mit seinem alten Freund Egon, mit dem ihn die Zeit im Internat verband. Sie lagen abends in ihren Betten, dicht nebeneinander gerückt und flüsterten sich ihre Geschichten zu: Die Mutter hatte nicht geschrieben, der Vater war mit einer Freundin unterwegs, das Latein wollte nicht klappen, der Mathematiklehrer hasste ihn, Luisa, seine erste Liebe, eine pausbackige Klassenkameradin, die im Mädchentrakt schlief, hatte ihn nicht angesehen, statt dessen einem anderen Jungen zugelächelt. Egon war zu früh gestorben. Es hatte lange gebraucht, bis er den Verlust richtig begriffen hatte. Für vieles brauchte er lange, zu lange, um es richtig zu verstehen. Der Alltag hielt ihn zu sehr im Griff.
    Er dachte: Ich flattere so herum. Nein, ich krach auf den Boden. Wie ein Reptil, nur auf meinen Vorteil bedacht, immer das Überleben im Auge. Ist das das Leben? Er verstand nichts. Jetzt marterte er seinen Kopf: Jetzt ist es spät. Ist es für mich zu spät, alt und krank, wie ich bin? Es ist sehr spät, dachte er, alles vergessen und vorbei.
    Sein Sohn setzte sich im Esszimmer auf seinen angestammten Platz und dirigierte lachend die Familie, die drei Jungen zuerst, auf ihre Plätze. Was nahm sich Anton da heraus, den Kopf der Tafel so selbstverständlich für sich zu reklamieren, wo er doch dort als Pater Familias jahrzehntelang der Familie vorstand. Irgendwann einmal hatte er seinem Sohn in einem generösen Anflug von Noblesse den Platz da oben freigegeben, einmal nur, eine freundliche Geste für den Tag gedacht, nichts weiter. Aber Anton, einnehmend wie immer und wenig feinfühlend, saß nun dort Sonntag für Sonntag, wenn die Familienessen, auf die Ann so großen Wert legte, zelebriert wurden.
    Sollte er etwas sagen, nein, nicht im Ernst, mehr so beiläufig, eine kleine lustige Pointe vortragen? Nicht für heute, aber um für die Zukunft ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben. Aber er kam nicht dazu. Anton spielte sich auf, ganz der Chef, heute noch mehr als sonst. Er sprach von »meiner Firma«, als wenn es sich um sein und nur um sein Eigentum handelte, das er groß und stark gemacht habe. Obwohl sein Vater, Vorgänger und langjähriger Chef des Unternehmens, der erst vor einigen Jahren den Platz für ihn geräumt hatte, zwei Sitze neben ihm die Vorspeise zu sich nahm und den ersten Tropfen des sonntäglichen Rieslings verkostete.
    Zitterten seine Hände schon wieder? Fing das wieder an? Er legte sie unter den Tisch, auf seine Knie. Nur jetzt nicht aufregen, dachte er, das macht es nur noch schlimmer.
    »Prost Anton!« rief er in die Runde, »ich habe schon einen Schluck zu mir genommen. Schön, dass Du mit den Jungen hier bist. Eine große Freude! Für Ann und mich eine schöne Unterbrechung.« »Warum sagst Du das, Vater? Du warst es doch, der uns die Tradition und die Familienzusammengehörigkeit so sehr ans Herz gelegt hat.« Der alte Mann hörte zu genau den Vorwurf in der Stimme seines Sohnes.
    »Schön, der Mutter zu Ehren, die Euch so liebevoll . . . Dich und Glorie . . . so liebevoll.«
    »Danke Dir,« sagte Ann bestimmt, »genug jetzt der schönen Worte! Und nehmen wir das Leben, wie es ist, wir müssen uns damit abfinden . . .«
    Ihre Worte verschwammen in seinem Ohr.
    Er dachte: Ich muss nicht reden, das muss nicht sein. Aber ich muss an Dich denken, Glorie, ich kann nicht anders. Vergib mir, meine Liebste, dass ich Dich nicht in dem Frieden ruhen lasse, den Du so sehr verdient hast. Aber wenn auch Du Dich mir verweigerst, weiß ich nicht, an wen ich mich außer an Dich wenden kann. Was soll ich denn tun, sag es mir?
    Wieder schallte Anns beherrschende Stimme über den Tisch: »So iss
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