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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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Wohnzimmer:
    »Ich will Sie ihm nicht länger vorenthalten, Sie werden sicherlich erwartet. Auch für Sie einen schwarzen Tee?« Sie öffnete die Tür zur Bibliothek, ein schmaler Raum, dessen hohe Wände bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Der alte Mann saß in seinem Ohrensessel, die Füße auf einem Schemel, auf seinem Schoß ein Stoß Bücher. Ann beobachtete für einen Augenblick, wie die beiden sich herzlich begrüßten, und Erwin umstandslos, als sei er zu Hause, einen Stuhl zu ihrem Mann hinzog. Ein feines Lächeln lag auf Alberts Gesicht, ein Lächeln, so glaubte sie, wie er es ihr lange nicht mehr geschenkt hatte. Ihre Bewegungen waren fast mechanisch, als sie den Raum verließ:
    »Richtig, der Tee für den Doktor, und für Dich sicher eine zweite Tasse.« Als Ann nach wenigen Minuten mit dem zierlichen Tablett, das sie auf den Hocker zwischen die Männer abstellte, zurückkam, blitzten ihre Augen:
    »Aber, bitte, nicht wieder dasselbe Problem! Irgendwann muss alles sein Ende haben.«
    »Sie sagen es, Ann«, warf Erwin ein, »aber wann ist der Zeitpunkt gekommen, den Sie als Ende bezeichnen? Manche Fragen ziehen sich hin, manchmal über ein ganzes Leben. Ich kenne da keine Rezepte. Aber wir werden versuchen, Ihren Ratschlag zu befolgen, wir bemühen uns, verehrte Ann.«
    Jetzt lachte sogar Albert:
    »Wir bemühen uns, Liebes. Mach Dir keine Sorgen.«
    Sie ging die wenigen Schritte zu ihm zurück, streichelte über seine Schläfen:
    »Genau dasselbe wollte ich doch Dir sagen.«
    Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, schlürften die Freunde den Tee und blinzelten sich spitzbubenhaft zu.
    »Sie meint es gut, wie Du siehst, Erwin.«
    »Sicher, aber Du machst es ihr nicht leicht. Du lässt sie nicht an Dich heran, nicht an Deiner Trauer teilhaben. Du teilst nicht. Glorie war schließlich auch ihre Tochter.«
    »Wie oft haben wir das schon durchgekaut. Die ewige Frage, die ich als Dein Patient oft genug mit Dir durchgegangen bin. Wie willst Du zwei Menschen nach über vierzig Jahren Ehe auseinanderfisilieren? Sagte sie nicht: Bitte, nicht wieder dasselbe Leid. Und antwortetest Du nicht: Wir bemühen uns? Also folge Deinen Worten.«
    »Albert, Albert. Du spielst mit mir! Das Leid über den Verlust eines geliebten Menschen ist nicht zu vergleichen mit dem Thema der Ehe.«
    »Richtig, Erwin, Du hast mich ertappt. Aber was von beidem ist schwerer zu lösen? Du hast es Dir leicht gemacht und Dich scheiden lassen, Du Drückeberger!«
    »Unter Qualen, guter Freund, unter Qualen: Und danach war es schlimmer als vorher.«
    »Recht so«, frohlockte Albert, »alles hat seinen Preis! Aber ein Psychiater, der das Handtuch wirft: Wie eine Kapitulation vor dem Feind ist das! Ist das eine gute Werbung?«
    »Jetzt hast Du gleichgezogen, mein Kompliment! Auch ich habe meine Untiefen, damit musst Du leben.«
    »Ich lebe sehr gerne damit, mit Vergnügen. Eine Freundschaft mit einem perfekten Menschen: grauenhaft, unvorstellbar! Dann hättest Du immer recht, noch mehr, als es heute schon der Fall ist.«
    »Nun Albert, Du liebst die Fragen, ich die Antworten. Gibt es einen Gott? Nein, Gott ist tot und wir müssen mit uns selbst fertig werden.«
    »Und dabei in aller Ruhe seine Gebote übernehmen.«
    »Ich wollte nur sagen, wir ergänzen uns bestens. Und ich lasse Dir Deinen biblischen Gott und Du mir meinen Nietzsche.«
    Sie öffneten die breite Glastür, die zum Garten führte. Es hatte zu regnen aufgehört, die Sonne brach durch die Wolken. Sie gingen hinaus über das noch feuchte Gras, betrachteten die Blumen, die Ann so liebevoll pflegte, sahen zum Himmel, eine seltene Leichtigkeit hatte sie erfasst. Albert ging schwerfällig, mit kleinen Schritten hinter dem Freund, aber der achtete nicht darauf.
    Als Erwin gegangen war, blieb der alte Mann im Garten. Er wischte mit seinem Taschentuch die hintere Holzbank trocken, nahm Platz, lauschte den Vögeln, die sich genauso wie er über die Sonnenstrahlen zu freuen schienen. Von Ferne klang Musik zu ihm hinüber, eine Sommerparty sehr wahrscheinlich, Menschenstimmen dazwischen, Gelächter . . . Er lachte aus Gesellschaft mit, ja, klatschte im Takt der Musik in die Hände:
    Es gibt keinen Grund, sich nicht zu freuen, sagte er laut zu sich selbst. Glorie war dankbar, wenn man ihr Freude bereitete. Mit den Jahren wurde dies immer schwieriger. Sie lebte mehr und mehr zurückgezogen. Wie in einer selbst gewählten Festung. Nur Christie durfte bei ihr sein. Aber ihre
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