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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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klargestaffelten Wolken von Horizont zu Horizont erschienen als Spuren von Traktorenreifen. Wildhasen nochund noch sprangen quer durch die Steppe im Vorwintergras von einem Schlupfloch gezielt in das andere.
    Eines Abends wanderten wir auch zum fernen Dorf und standen dort an der Bar mit den seit Jahren immergleichen zwei, drei anderen, und mein Freund, mit seinem Auge für Kleidung, bemerkte, wie oft doch »Verlassene besonders scharfe Bügelfalten« aufwiesen. Dabei verschwieg ich, daß er selber mir während dieser Tage für Momente als ein Verlassener erschien. Wie sich das äußerte? Indem er, gerade noch der Harmonische von uns beiden, jählings, ungeschickt, von Ungeschick buchstäblich befallen wurde, jeder Handgriff daneben, und was immer er in Händen hielt, fiel ihm zu Boden. Und wie noch? Ohne Uhr wußte er jedesmal die genaue Zeit, auch wenn er geschlafen hatte, und zwar auf die Minute; und wo auch immer Zahlen sich zeigten, auf einem Thermostat, am Tachometer in meinem Auto, laser diese Zahlen als Zeitangabe, als die aktuelle, die Realzeit. Einmal, lange vorher, hatte er mir zukommen lassen, sein einziger Stolz sei es, Zeit zu haben – gerade weil er erfahren habe, was es heiße, keine Zeit zu haben, was heiße: der Drache im Herzen; das Herz als Drachen. Also hatte er sich von seiner ursprünglichen Zeitnot, seiner bösartigen Langeweile, bis heute nicht ganz erholt.
    Es kam sein Geburtstag, und um den mit meinem Freund zu feiern, nahm ich mir arbeitsfrei, und wir brachen auf über Landstraßen, Dörfer, Feldwege, Buschwerk – »Da ist kein Durchkommen« (ich) – »Aber natürlich ist da ein Durchkommen!« (er) – und wieder Dörfer und Landstraßen zum Nachtmahl in das Gasthaus hinter dem Plateauhügel, mit sage und schreibe dem Namen L’Auberge du Saint Graal , »Die Herberge zum Heiligen Gral«. (Zwischendurch einmal umbenannt, heißt das Wirtshaus heute wieder wie vorzeiten).
    Wir machten uns auf den Weg lange vor Sonnenaufgang, der, wie er wußte, an seinem Geburtstag um acht Uhr dreiunddreißig stattfände. Die Wolken am Ost-, fast schon Südrand des Plateaus erschienen goldgerändert, und von dem bejahrten Geburtstagskind kam dazu der Ausruf: »Gloria!« Ein fast warmer Wind wehte uns beim Querfeldeingehen entgegen, worauf mein Freund sagte, der wehe von Jemen her, aus dem Paradies. Am Ende eines Alleenwegs ein blauer Planwagen: das Himmelblau. Mehr denn je ähnelte der, mit dem ich zusammen für den Tag unterwegs war, dem alterslosen, scheuen und unversehens übermütigen Richard Widmark. Und ich als sein Partner in »Two Rode Together«? Schön wär’s; schön wär’s gewesen. Aber jedenfalls nahm ich meinen Partner ernst, ernst wie nur James Stewart Partner und/oder Gegenüber ernst nahm. Den Partner? Die Sache?! Seine. Unsere. Unser beiden Abenteuer. Und was hörte ich zugleich von deman meiner Seite?: »Seltsam, ein Licht wie damals beim Begräbnis der jungfräulichen Idiotin.«
    Wir wanderten nicht, geschweige denn marschierten wir. Wir stapften. »Endlich stapfe ich wieder«, sagte er. Und das so gleichmäßige Geräusch bei unserem Stapfen hörte ich, vor allem im Laub, als das Dahinstampfen eines Zuges, eines gar langsamen, nicht und nicht in volle Fahrt kommenden – recht so!, und ich erinnerte mich an den Satz, den jemand über meine Versuche gesagt hatte: »wie ein langsamer Milchzug in der Herrgottsfrühe«. Und so stapften wir. Stapften, stapften, stapften. Musik des Stapfens, andere Karawanenmusik.
    Wurde der Weg, so wir überhaupt uns auf einem bewegten, zu eng für uns zwei, ging mein Freund voraus, und ich sah seinen Rücken voll von Kletten, die in Trauben und Clustern auch an mir hafteten. Ab undzu drehte er sich um und erzählte mir bisher unbekannte Bruchstücke seiner Geschichte, wie von etwas längst Überstandenem: Wie im Zweiten Weltkrieg sich Partisanen als Pilzsucher verkleidet hätten, habe er sich einmal umgekehrt für den Wald als Partisan verkleidet, um das zu finden, worauf er so scharf war, und ein andermal habe er, als Erbschaft oder Vermächtnis für sein Kind, eine Karte mit den »Schatzvorkommen« der ganzen Gegend gezeichnet. Und einmal, im Blick über die Schulter, weniger zu mir als ins Leere, rief er aus: »Was habe ich doch für Glück gehabt, mein Leben lang! Und wie habe ich mich immer wieder getäuscht, einmal bitter, dann schön. Sich schöntäuschen!« Und dazu trat er auf einen altgewordenen, löchrigen Boviste am Wiesenrain, worauf aus
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