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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Eigentlich , dachte Ann Kathrin Klaasen, müsste ich dem Mörder dankbar sein. Ich wäre sonst nie um diese Jahreszeit hierher gefahren.
    Natürlich kannte sie den zauberhaften Schlosspark Lütetsburg. Ihre Freundin Ulrike hatte hier geheiratet. Damals hatte Ann Kathrin Klaasen sich vorgenommen, immer wieder zu diesem Ort der Ruhe zurückzukehren, um zwischen dem jahrhundertealten Baumbestand Einkehr zu halten und zu sich selbst zu finden.
    Von ihrem Haus im Distelkamp in Norden bis zum Schlosspark waren es nur wenige Minuten. Doch wer lange am Meer wohnt, gewöhnt sich an das Geräusch der Wellen und hört es irgendwann nicht mehr, dachte sie, traurig darüber, dass ein Kriminalfall nötig war, um sie an diesen wunderbaren Ort zurückzuführen.
    Jetzt wurde sie von der Farbenpracht der Rhododendron- und Azaleenblüten geradezu überflutet. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete nur ein. Der Geruch war überwältigend. Wie konnte jemand in dieser Oase für die Seele einen Menschen umbringen?
    Die Nordsee konnte man hier nicht hören. Der Park hatte eine ganz eigene Geräuschkulisse. Das Surren nektartrunkener Insekten war wie ein Hintergrundgeräusch, über dem das Knistern der Zweige und Blätter lag, mit denen der Wind spielte, als hätte er bei seinem langen Weg übers Meer vergessen, wie schön es auf dem Festland sein konnte.
    Ihre Freundin Ulrike hatte in der hölzernen Nordischen Kapelle geheiratet. Ann Kathrin Klaasen war dem ostfriesischen Häuptlingsgeschlecht derer zu Innhausen und Knyphausen zutiefst dankbar, dass sie diesen Ort ermöglicht hatten. Sie nahm sich vor, mit ihrem Sohn Eike hierhin zu gehen. Es konnte doch nicht sein, dass er in der Nähe aufwuchs, aber das CineStar in Emden besser kannte als diesen Park. Womöglich gab es hier mehr zu sehen als im Kino, dachte sie.
    Sie öffnete die Augen wieder und ließ die Farbenpracht auf sich wirken. Dies zarte Grün, das sich mit Lachsrot und Sonnengelb mischte, erinnerte sie an die ersten Eindrücke ihrer Kindheit, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal ein Museum besucht hatte und er versuchte, ihr die hingetupften Bilder der Impressionisten nahezubringen. Sie war begeistert gewesen von den Bildern und noch mehr davon, wie sehr ihr Vater sich mit ihr beschäftigte. Er versuchte, ihr den Blick für die Welt zu öffnen. »Schönheit«, sagte er, »muss man auch sehen können.«
    Aber was jetzt auf sie wartete, war sicherlich nicht schön. Sie hatte die Leiche noch gar nicht gesehen. Sie stand am Eingang des Parks.
    Der uniformierte Kollege Paul Schrader interessierte sich nicht für die Schönheit der Landschaft. Er wirkte merkwürdig betreten, wie jemand in einer Beziehungskrise oder wie ein Mensch mit einem schlechten Gewissen, dachte Ann Kathrin. So wie er jetzt dastand und auf seine Schuhe sah, benahmen sich Täter oft ganz kurz vor ihrem Geständnis. Typischerweise kaute er auch noch auf der Unterlippe herum und war ganz in sich gekehrt, als müsse er erst selbst mit etwas klarkommen, bevor er es dann der Umwelt anvertrauen konnte.
    Neben ihr reckte Weller sich und atmete tief durch. »Weißt du, woran ich gerade denke, Ann?«
    »Ja, daran, dass wir mal wieder Urlaub machen sollten.«
    »Genau«, log er. In Wirklichkeit hatte er an etwas ganz anderes
gedacht. Gerade, als die Sonne in ihr Gesicht schien und ihren Haaren eine engelhafte Aura gab, sie die Augen für einen Moment geschlossen hatte und in ihren Gedanken und Erinnerungen versunken war, da spürte er fast schmerzhaft, wie sehr er sie begehrte. Am liebsten hätte er sie jetzt hier sofort geliebt, zwischen all der Blütenpracht, mit der das Leben sich selbst feierte. Vielleicht wirkten diese Blütendüfte wie ein Aphrodisiakum auf ihn. Vielleicht war es nur Ann Kathrin selbst. Es war ihm egal. Er hatte jetzt keine Lust, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit ihr und ihrem schönen Körper. Aber das konnte er ihr nicht sagen, denn hier war ein Mord gemeldet worden, und die Kollegen von der Spurensicherung waren weiter hinten im Park schon bei der Arbeit.
    Abel von der Spurensicherung kam ihnen an den Wasserläufen entlang entgegen. Er hielt ein Fotostativ wie einen Baseballschläger in der Hand, so als müsse er sich damit verteidigen. Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten hing die Kamera um seinen Hals. Er zeigte auf eine mächtige farnblättrige Buche und rief: »Warum bin ich nicht Landschaftsgärtner geworden oder Florist oder … « Er breitete die Arme aus.
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