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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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wäre es um ihn, um ihn persönlich, geschehen. Ja, seltsam, oder eben schaurig: In den Momenten seiner Ekstase hatte er zugleich Angst. Angst, als derjenige, der als ein besonderer Geometer, allein mit seinen so geometrischen wie sphärischen Bewegungen querwaldein alles Zeithaben auf Erden hatte und auch darstellte, hinterrücks jäh keine Zeit mehr zu haben – entrückt würde aus der Zeit –, daß seine Zeit umwäre. »Verflucht seist du, falscher Lichtbringer!«
    Und so geschah es dann auch, und zuletzt täglich. Ein jedesmal drohte seine Ausforscher-, Forscher-, Entdecker-Ekstase umzuschlagen in Panik. Das erlebte er als ein anfangs schönes, Herz wie Stirn erwärmendes, dann unmerklich ins Grausige und Eisige wechselndes, seine Person übersteigendes, kosmisches Ritual. Das Grausige, es kündigte sich an, je länger er fündig wurde (und er wurde mit jedem Tag fündiger und entdeckerischer), indem sich ihm vor lauter Ausspähen und Weiterforschen der Raum verengte und zuletzt zu Punkten, ein Punkt da, ein Punkt dort, schrumpfte. Hatte sein Suchengehen einst Umgebung geschaffen, so ließ das Finden nun, besonders in Überfülle, sie schrumpfen. Wie schön und wohltätig waren doch einmal die Einzelfunde gewesen. Das war jetzt nicht mehr Raum; und das hieß: aus mit dem Raumgefühl. Ineiner Zwischenzeit gaukelte er, den Blick in die Baumwipfel und -kronen, darüber hinaus ins »Firmament«, zu den fernstmöglichen Horizonten bloß spielend, sich den Raum noch vor – und verspielte ihn so erst recht, auch weil solche Blicke, arg kurz, wie er sie tätigte, nie zum Schauen wurden und er sie, bevor sie etwas wie Stetigkeit bekamen, auch schon abbrach und zurück ins punkthafte Äugen, ja Stieren bodenwärts fiel. Vom Süd-West-Nord-Ost-Herrn war er zum Punkt-Sklaven geworden. Ja, der Sklave, das war inzwischen er.
    Und mit dem derart verspielten Raum, Teil der kosmischen Regel?, nahte die beinah tägliche Zeitenge, dann -klemme, dann Unzeit. Merkwürdig: Seine Art der Zeitnot, sein »Zeitschwitzkasten«, wie er das nannte, kam nicht davon, daß er zu wenig Zeit hatte, sondern zu viel – der Raumverlust rührte von seinem Maßverlust. Und anders merkwürdig: Das, was ihn ab und zu noch vorder Panik bewahrte, gerade die panisch werdende Außenwelt, war die panische Natur. Wenn, im Gewitter oder im Sturm, die Zeiten und die Räume durcheinandergerieten, nicht in ihm drin, sondern außen, im Draußen, so erlebte er das als ein grundanderes Spiel, als die erlösende Gegenbewegung zu seinen inneren Gaukeleien und Vortäuschereien; mitten im Herabstürzen der Äste, im Durchdielüftepfeilen der geängstigten Vögel, im Donnerkrachen fühlte er sich in Sicherheit; äugte und spähte zwar weiterhin (zwischendurch nur noch, nicht mehr in einem zu) seit- und wurzelwärts, aber er gehörte dazu, zu den in der panischen Welt durcheinanderspielenden Räumen und Zeiten; fand zur gepriesenen Ruhe; und bekam große Augen, selbst wenn ein Sturzast ihn streifte oder ein Blitz ihn unwillkürlich erschreckt hatte: In der Sekunde nach dem Zusammenzucken sah er sogar schärfer, und was er so jeweils sah, war, wie früher einmal, umgeben von einem Schein – jedenfalls kein Punkt. Wie doch sein Ortssinn zurückkam gerade in der Wildnis der panischen Welt. Wie er gerade als Verirrter nun zum Entdecker wurde.
    Was ihn außerdem dann und wann noch vor seinem zunehmenden Unzeitbewußtsein bewahrte, das waren, paradox oder auch nicht, jene, ach gar kurzen Episoden, da er suchte, suchte und suchte – er konnte nicht mehr anders – und nichts fand. Während jener Suchstunden wurde er zwar mehr und mehr ärgerlich, aber gerade solcher Ärger half ihm, in der Zeit zu bleiben, oder, wie er das bei sich selber nannte, »im Diesseits«. Und, vor allem, nach einem Tag der Vergeblichkeit mit leeren Händen und Taschen aus der Waldestiefe ins Freie zu treten, wo es endlich, endlich! nichts mehr zu suchen gab, das hieß in der Tat: »Ah, ins Freie!« Nur war solches Nichts-und-wieder-nichts-Finden die große und von Mal zu Mal größere Seltenheit. »Suchen und Nichtfinden!«,das sah er vor sich als eine Art Ideal. Nur: Wie es praktizieren? Es war nicht zu verwirklichen, wenigstens nicht von einem Pilznarren, und schon gar nicht von einem, der nicht seinesgleichen hatte.
    Was machte ihn in all den Narrengesellschaften zum Sonderfall? frage ich mich. Vielleicht, daß er, William Shakespeare abgewandelt, über sein Pilznarrentum hinaus noch ein
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