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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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dereinst auch aus dem Paradiesgarten?
    Wollte mein Pilznarrfreund sich lossagen von seiner Haßliebe, als er einige Monate lang quer durch die Wüsten und Dünenlandschaften der Erde zog? Weiß nicht. Was ich weiß: daß er auch bei den Tuaregs und im Jemen, im Wüsten- wie im Dünensand, nah den Oasen, anfing, auf die Suche nach Pilzen zu gehen, und die jeweils dem Sand und dem Land entsprechenden, mit ihm, wie sagt man, »symbiotischen«, auch aufstocherte. Und auch in unseren europäischen Mitten, wohin er sich vor den Pilzen angeblich flüchtete, hielt er, am Fuß der Kathedralen, in den Stadien, sogar, sage und schreibe, bei Bootsfahrten auf den Flüssen,zwischen den Schienen der Untergrundbahnen, auf den vegetationslosesten Friedhöfen, zumindest nach ihnen Ausschau, oder es geschah ein Kopfrucken hin zu ihnen, weg von allem andern, und manchmal wurde er selbst da, im undurchlässigsten Beton, fündig, zu seinem Leidwesen nach einem flüchtigen Moment der Ekstase. In der Stunde vor einem nicht belanglosen chirurgischen Eingriff stand er am Fenster der Klinik, mit einem flüchtigen Blick auf die Baumkrone davor, worauf er aber umso inständiger und zugleich angeekelter unten das Wurzelwerk ausspähte, nach was wohl?
    Immer häufiger unterliefen ihm so Litaneien von Schmähungen vor seinen Forschungsgegenständen: »Untiere. Zwitterwesen. Bastarde. Verweslichste der Kreaturen. Mütter allen Ungeziefers.« Und die wüstesten der Beschimpfungen waren in seinen Augen: »Märchenfritzen. Madenmärchen. Als Rotkäppchen verkleidete Reißwölfe. Rumpelstilzchen mit den tausend falschen Namen, mit ›Rumpelstilzchen‹ als dem allerfalschesten! Schleicht euch! Erbarmen!«
    Da es vor seinen einstigen Lieblingen nirgends auf dem Erdkreis, von Feuerland bis Sibirien, ein Entkommen gab, konnte er ebensogut heimkehren in Haus und Garten, nah der Metropole, nah den vertrauten Wäldern. Versteht sich, oder verstehe, wer kann, daß es ihn längst nicht mehr unwillkürlich, sondern gegen seinen Willen dort hinein zog, nein, trieb, geradewegs jagte. Sein erster Gedanke, nein, Zwang, schon beim Aufwachen, lange vor dem Morgenwerden: »In die Pilze mit dir, dalli, dalli!«
    So vergingen wieder ein Sommer und ein Herbst, und es kam der Winter. Über Nacht fiel der erste Schnee, auch tagsüber, dicht und dichter. Das hielt den Narren keineswegs davon ab, wie täglich auf die Suche zu gehen, machte ihn, obgleich umdüstert vonSchuldbewußtsein und Selbstverachtung, in Anbetracht der fast kniehohen Schneeschicht umso begieriger, hetzte ihn auf. Von »Anbetracht« im übrigen keine Rede, und auch die Flocken an der Stirn, einst das große Lebensmal ihm da eher antupfend als einzeichnend: nichts da, nichts mehr.
    So wie er im Wald, tief im Schnee, dann auch grub, scharrte, umwälzte, mit einem Bündel von Suchstöcken, Prügeln, auf einmal, mit den bloßen Händen, mit den Füßen, links, rechts, wie ein Fußballspieler: nur das tote Herbstlaub, in vielerlei durchnäßten Farben, für die er kaum etwas übrig hatte, aufleuchtend unter der so reinweißen Schicht. Dabei war es doch seine langjährige Erfahrung, daß im Winter, im Dezember bis weit in den Januar hinein, sogar unterm Schnee, der sie vor dem Frost schützte, die Seinigen – das waren sie trotz allem noch – wuchsen. Und insbesondere konnte er da, nach der Saison der sogenannten »Totentrompeten« – wieder so ein falscher Name, wo doch diese Pilze in einem lebendigen Schwarzgrau flitterten – mit deren Vettern rechnen, den ebenfalls minitrompetenförmigen, nur so hell- wie tiefgelben, welche er, eigenmächtig, wie er geworden war, von ihrem Umlaufnamen umbenannt hatte in »Erdschmetterlinge«, und, in der Zeit, da ihm noch nach Kosenamen für die Dinger war, in »Erdfalterchen«. Der Apotheker von Taxham anders als viele der heutigen Pharmazeuten ein Pilzkenner wie kaum einer, hatte ihm im übrigen zukommen lassen, daß diese »Trompetenpfifferlinge« nach dem ersten Frost noch an Geschmack gewännen.
    Wie es sich traf, war das der Tag vor seinem Verschollengehen; vor seinem Verschwinden von der Erdoberfläche. Stunden um Stunden wühlte er vergeblich den Schnee auf, und ein Dritter hätte die Waldgegenden, durch die mein Freund zickzackte, für geschändet von den anderen, den mechanisierten und automatisierten Schatzsuchern, oder zerspießt von einer ganzen Wildschweinhorde gehalten. Zu seinem Glück oder Unglück hörte es zu schneien auf, und in der schrägen
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