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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe
Autoren: Krystyna Kuhn
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    I rgendwo stürzte ein Stein die Felsen hinab, schlug in seinem Fall mehrfach gegen die Wand und das dumpfe Geräusch des Aufpralls wiederholte sich noch lange als Echo, als der Fels-brocken schon längst auf die glatte Oberfläche des Lake Mirror eingeschlagen und innerhalb weniger Sekunden hinab auf den Grund des Gletschersees gesunken war.
    Katie ließ sich nicht ablenken, sondern bewegte sich mit routinierter Sicherheit weiter. Vielleicht hätten manche Leute sie auch mit einer Katze verglichen. Und wenn sie an Wiedergeburt hätte glauben können und die Wahl gehabt hätte – Katzen hätten mit Sicherheit auf ihrer Topliste ganz oben gestanden. Nur eben nicht eine einfache Hauskatze, sondern so etwas wie ein Leopard.
    Etwa fünfundzwanzig Meter unter ihr nahm der Gletschersee fast die gesamte Fläche des Tals ein. Die Morgensonne, die gerade hinter den hellen Gebäuden des Grace College am Ostufer aufging, ließ die Schatten auf der Wasseroberfläche wie lebendige Wesen aussehen.
    Kein Windhauch war zu spüren und Katie ahnte, dass es wieder einer dieser Sonnentage im Herbst werden würde, wie sie sich nun schon seit gut einer Woche aneinanderreihten. Nach dem völlig verregneten Sommer hatte keiner von den Studenten des Grace mehr daran geglaubt, dass hier oben auf knapp zweitausend Meter noch einmal die Sonne scheinen würde. Die letzten Tage hatte eine regelrechte Hitze geherrscht und Katie fürchtete, dass es damit bald vorbei sein würde.
    Es war fast sieben Uhr morgens.
    Kein Wecker war nötig gewesen, um Katie aus ihrem unruhigen Schlaf zu reißen und dem Traum, der sich – so kam es ihr jedenfalls vor – die ganze Nacht wiederholt hatte, als hätte jemand die Taste Repeat gedrückt. Sie hatte genau in dem Moment die Augen aufgeschlagen, als die erste Morgendämmerung die schneebedeckte Bergkette des Ghost in ein unwirkliches Licht tauchte.
    Katie klammerte sich mit den Fingerspitzen an der Fels-kante direkt unterhalb des Überhanges fest, der die dreißig Meter hohe Steinwand in zwei Abschnitte teilte. Es war die schwierigste Stelle im Felsen und noch dazu war durch die Kühle der Nacht der Stein rutschig und kalt. Doch konnte sie zumindest auf dem Absatz unter dem Überhang stehen.
    Aber es gab einen entscheidenden Faktor, der jedes Zurück unmöglich machte. Sie hatte den Point of no return bereits überschritten. Katie kannte diese Route inzwischen so gut, dass sie sie free solo klettern konnte, also ohne Seilsicherung, nur mit Magnesiumbeutel und diesen super Kletterschuhen, die sie in Fields gekauft hatte. Und das erst machte es so unglaublich spannend. Wenn es nur noch den Fels und dich gab. Denn nur das ließ den Blick nach vorn zu. Auch wenn ein Fehler gleichbedeutend war mit einem Absturz.
    Was sie hier machte, das tat sie für Sebastien. Sie trainierte ihren Körper, ihren Geist, ihren Mut. Damit sie, wenn es wieder einmal so weit kommen sollte, das Richtige tat.
    Ihre rechte Hand suchte nach der ersten Felsritze im Überhang. Sie hatte höchstens zwei, vielleicht sogar nur einen Versuch. Anderenfalls würde ihre Kraft nachlassen und ohne Kraft in den Armen und Fingern wäre sie hier in der Wand verloren. Der linke Griff passte zum Glück, denn ausgerechnet heute bekam sie den Kopf nicht frei. Vielleicht lag es daran, dass das College mitten in den Vorbereitungen für den Besuch der Generalgouverneurin steckte, die im Rahmen der kanadischen Ausbildungsoffensive alle Elite-Colleges des Landes besuchte.
    Von den meisten Studenten der jüngeren Jahrgänge wurden die Eltern erwartet und verdammt noch mal, war es da ein Wunder, dass sie an ihre eigenen dachte? Man konnte nun einmal nicht einfach die Worte Mum und Dad aus dem Gedächtnis löschen. Auch wenn sie es nicht verdienten, überhaupt so genannt zu werden.
    Katie hatte die Felsritze gefunden, aber ihr rechter Zeigefinger spürte einen winzigen Stein in der Felsritze, der sie irritierte und für einen Moment hatte sie das Gefühl zu schwanken. Sie streckte das linke Bein zur Seite und traf auf Anhieb die Kante, an der sie sich abstützen musste, um nach oben zu schwingen. Sie konzentrierte sich, ein Ruck ging durch ihren Körper und sie griff mit der rechten Hand nach oben. Doch sie spürte sofort, dass der erste Versuch misslingen würde.
    Der Schweiß stand auf ihrer Stirn, als sie das Bein zurückgezogen, ihre rechte Hand wieder die alte Position gefunden hatte. Sie lehnte für einige Sekunden den Körper gegen den kalten
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