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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe
Autoren: Krystyna Kuhn
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Katie konnte es noch immer nicht fassen!
    Es würde ein paar Reden geben, kluge Vorträge von den Professoren, die Generalgouverneurin würde vermutlich weise nicken und viele Hände schütteln. Dann die Presse, ein paar Interviews und Fotos – und anschließend war der Spuk vorbei. Katie kannte sich bestens aus mit diesen verlogenen Veranstaltungen. Sie hatte Dutzende in ihrer Kindheit erlebt und verabscheute sie mehr als alles andere auf der Welt.
    Politiker! Sie waren wie dieses College hier – die Fassade, Eingangshalle, Mensa, Sportzentren, Seminarräume prunkvoll, makellos – schöner Schein. Dahinter jedoch, dort wo das wahre Leben stattfand, der graue Alltag sich abspielte, dort sah es ganz anders aus. Das College bestand aus dem historischen Hauptgebäude und mehreren niedrigeren, lang gestreckten Nebengebäuden und Bungalows dahinter, die durch unterirdische Tunnels verbunden waren. Der weiß gestrichene, dreiflügelige Komplex wirkte auf den ersten Blick einladend. Doch obwohl der Campus erst vor wenigen Jahren – nach der Wiedereröffnung des Colleges – renoviert worden war, hatte man vor allem im historischen Teil ganze Trakte ausgespart, als sei dafür das Geld ausgegangen.
    Der Anstrich der langen Gänge der Seitenflügel beispielsweise, in denen die Studentenapartments untergebracht waren, zeigte noch die Risse der letzten Jahrzehnte und die Wände der Treppenaufgänge waren mit Uralt-Graffiti beschmiert.
    Hier sollte sich die Gouverneurin mal umsehen, dann bekäme sie ein anderes Bild vermittelt, dachte Katie. Aber das würde der Dean des Grace College, mit Sicherheit zu verhindern wissen.
    Als Katie ins Apartment zurückgekommen war, war sie erleichtert gewesen, keine ihrer drei Mitbewohnerinnen anzutreffen. So ersparte sie sich die besorgten Blicke und die bohrenden Fragen.
    Vor allem Debbie konnte sich nicht daran gewöhnen, dass Katie sie in der Regel ignorierte, während Rose immer wieder versuchte, auf ihre zurückhaltende Art Katie zu begegnen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber auch sie ließ Katie meistens abblitzen. Die Einzige, zu der sie so etwas wie Vertrauen gefasst hatte, war Julia. Vielleicht lag es daran, dass sie beide ein Geheimnis miteinander teilten, seit sie im April gemeinsam die geheimen Daten von Angela Finder im Lake Mirror versenkt hatten. So etwas wie ein öffentlicher Schwur war dafür nicht notwendig gewesen. Katie war sich ziemlich sicher – so sicher man sich eben sein konnte bei einem anderen Menschen –, dass Julia nie ein Wort darüber verlieren würde.
    »Hey Katie, du bist aber spät dran!«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. Vor ihr stand David Freeman, einer der Jungs, der zu ihrer Clique – wie Debbie es nannte – gehörte. Doch Katie hatte sich noch nie zu einer Gruppe zugehörig gefühlt. Aber David war immerhin jemand, den sie ertragen konnte, einfach weil seine Lebensstrategie auf hartnäckiger Geduld beruhte und einem – Katie konnte es nicht anders nennen – naiven Optimismus. Jeder mochte David und so gut wie niemand wollte mit ihr – Katie – befreundet sein. Aber das beruhte schließlich auf Gegenseitigkeit.
    David, der wie so oft schwarz gekleidet war, trug ein paar Bücher unter dem Arm.
    »Wenn ich gewusst hätte, was hier los ist, wäre ich gar nicht erst aufgetaucht!« Sie deutete auf die Arbeiter, die eine Reihe Stühle nach der anderen aufbauten. »Hast du den Aufmarsch da draußen gesehen?«
    »Das College will sich der Gouverneurin und den Eltern eben von seiner besten Seite zeigen!«
    »Das haben sie ja auch nötig nach Angelas Tod. Ist nicht gerade eine super Werbung für ein College, wenn hier Studentinnen sterben.«
    Katie bemerkte Davids prüfenden Blick. »Was hast du denn da an der Stirn?«
    Sie hob gleichgültig die Achseln und wandte sich Richtung Mensa. »Bin gegen einen Baum gerannt.«
    David schüttelte den Kopf. »Hat sich das jemand angesehen?«
    »Das muss sich niemand ansehen, okay?«
    Im nächsten Moment hatte sie David bereits stehen gelassen und lief die Treppe hoch zur Mensa im ersten Stock, wo der größte Teil der Studenten dabei war, sein Geschirr wegzuräumen und den Saal zu verlassen. Ihre Hand berührte das Pflaster an der Stirn. Die Platzwunde war ziemlich tief, wie sie vorhin im Spiegel gesehen hatte.
    Unwillkürlich schob sie sich eine Strähne ihres schwarzen Haares in die Stirn in der sinnlosen Hoffnung, das Pflaster bliebe unbemerkt. Obwohl – sollten die anderen doch denken, was sie
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