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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe
Autoren: Krystyna Kuhn
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Felsen.
    Fuck! Von wegen Katze, die sich mit schlafwandlerischer Sicherheit im Fels bewegte! Sie fluchte leise vor sich hin. Was war nur heute Morgen mit ihr los? Wenn der nächste Versuch nicht klappte, war es das. Schon jetzt spürte sie, wie ihre Finger verdächtig zitterten.
    Als sie sich vor gut einer Stunde aus dem College geschlichen hatte, hatte über dem Apartment, das sie zusammen mit drei anderen Studentinnen, Debbie, Rose und Julia, bewohnte, noch Totenstille gelegen. Niemand würde sie vermissen, außer vielleicht Julia. Die anderen hatten sich daran gewöhnt, dass sie ihr eigenes Ding durchzog und sich einen Dreck um ihre Mitstudenten scherte. Die Gespräche drehten sich doch sowieso fast ausschließlich um Kurse, credits, Noten, Dozenten.
    Außerdem würde niemand darauf kommen, dass sie hier im Sperrbezirk sein könnte. Nicht nach den Ereignissen vor drei Monaten, der Horrornacht, wie Debbie sie nannte.
    Als ob Katie sich von ein paar Verbotsschildern aus Blech abhalten lassen würde, diese Felswand hochzuklettern. Nein, sie, Katie West, würde nie eine Grenze akzeptieren, die andere ihr setzten. Nicht vom Dean, Mr Walden, nicht von ihren Dozenten und schon gar nicht von ihrem Vater.
    Sie wandte den Kopf nach rechts, wo sich der Ghost, inzwischen von der hellen Morgensonne angestrahlt, über dem Lake Mirror erhob.
    Ihr nächstes Ziel.
    Ihr Herz schlug schneller vor Aufregung und Erwartungsfreude.
    Ja, der Gedanke fühlte sich genau richtig an.
    Zum zweiten Mal suchte Katies Hand an dem kalten, vom Morgentau feuchten Felsen nach der winzigen Felsritze über ihr, bis sie den widerspenstigen Griff fand und sich daran festklammerte. Sie streckte ihr linkes Bein.
    Konzentrier dich, Katie!
    Nur ein Meter. Nur ein einziger Meter. Und er kostete so viel an Kraft.
    Katzen haben sieben Leben. Volles Risiko und alles auf eine Karte setzen. Und wenn sie es erst einmal bis an das Ende der Felswand geschafft hatte, würde sie sich dort oben frei fühlen. Dann würde sie auch diesen Tag überstehen, wie sie bereits die letzten hundert Tage im Tal überstanden hatte.
    Aufgeben war keine Option für Katie. Das war sie auch Sebastien schuldig.
    Weiter oben wurden die Griffabstände größer. Sie schüttelte den einen Arm aus, dann den anderen und griff in den Magnesiumbeutel an ihrer Hüfte.
    Ihr linkes Bein schien sich fast in die Steinwand zu bohren, als sie jetzt mit aller Kraft dagegentrat.
    Sachte, Katie. Langsam.
    Auf den nächsten Versuch kam es an. Sie ging im Kopf die Bewegungen durch. Es war ihre Route. Sie kannte jede Stelle und sie selbst hatte ihr den Namen gegeben.
    Black Dream.
    Nirgendwo hatte sie einen Hinweis gefunden, dass vor ihr schon jemand die Wand hochgeklettert war. Keine Haken, keine vorgegebene Linie im Fels, keinerlei Spuren.
    Und wenn du es geschafft hast, ohne Sicherung diese Route zu klettern, dich nur mit der Kraft des eigenen Körpers nach oben zu bewegen, wirst du dich gut fühlen. Verdammt gut!
    Im Stillen zählte sie die Sekunden von zehn abwärts, um bei drei... zwei... eins... null tief Luft zu holen und dann spannte sich ihr Körper in eine Linie und sie hing über dem Felsabsatz, auf dem sie soeben noch gestanden hatte.
    Ja!
    Dieser Felsen war ihr Felsen. Dieser Morgen war ihr Morgen. Dieser Tag ihr Tag. Und den konnte ihr niemand nehmen, vor allem nicht ihr Vater. Er nicht. Gerade er.
    George West, ihr Vater, war eines Tages vor ihr gestanden mit diesem Brief in der Hand: »Ich wusste nicht, dass du dich für dieses College beworben hattest.«
    Katie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und schnippisch erwidert: »Es ist meine Entscheidung.«
    »Du willst also nach Kanada?«
    Kanada? Nie im Traum wäre Katie vorher auf diese Idee gekommen. Doch die Sache mit Sebastien war erst wenige Wochen her. Er war ihr erster Freund gewesen. Ihr erster und einziger und sie hätte alles dafür gegeben, wenn er noch am Leben gewesen wäre.
    »Warum nicht Kanada? Hast du etwa etwas dagegen? Willst du lieber, dass ich die Georgetown University besuche?«
    »Keineswegs. Es reicht, dass dein Bild in allen Zeitungen zu sehen ist.«
    »Eben. Wozu brauchst du mich dann noch live und in Farbe?«
    Und ihre Mum? Sie hatte diese völlig emotionslose Miene der Chungs aufgesetzt, der Gesichtsausdruck, der sich im Lauf der vielen Generationen des Chung-Clans genetisch festgesetzt und aus dem Chromosomenpool nicht mehr wegzudenken war. Aber die Tage vor Katies Abreise war sie seltsam unruhig gewesen,
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