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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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nicht immer vorteilhaft ausfällt?
    Wolf:  Es gab Zeiten, in denen mir das schwer zu schaffen machte. Inzwischen ist mir die Meinung der Nachwelt nicht mehr wichtig. Meine Töchter und meine engen Freunde sollen mich möglichst so sehen, wie ich bin. Wie viel Mißverständnis und Mißkenntnis eigentlich jeden trifft, der in die Öffentlichkeit geht, das sehe ich auch an anderen. Wie sagte doch Goethe: »Übers Niederträchtige/Niemand sich beklage;/Denn es ist das Mächtige,/Was man dir auch sage.«
    SPIEGEL :  Hatten Sie zuweilen Sorge, daß Sie das Buch, das Ihnen so wichtig ist, nicht würden fertigstellen können?
    Wolf:  Ich denke viel an den Tod, und es ist mir fast jeden Tag bewußt, daß die Frist, die mir noch bleibt, kurz ist. Während des Schreibens habe ich manchmal gedacht: Na, das werden sie mich vielleicht noch zu Ende schreiben lassen.
    SPIEGEL :  Wer ist sie? Einen Gott oder gar Götter gibt es für Sie doch nicht. Wer bevölkert den Himmel über Ihnen?
    Wolf:  Sagen wir mal: die Parzen. Und: Haben Sie wirklich den Engel übersehen, der am Schluß meines Buchs auftaucht – den schwarzen Engel?
    SPIEGEL :  Durchaus nicht. Doch die Frage bleibt: Sind Sie dankbar, daß Sie das Buch doch geschafft haben?
    Wolf:  Darauf bezieht sich meine Dankbarkeit nicht. Aber ich bin dankbar, daß ich überhaupt auf der Welt sein konnte und auch dafür, wie mein Leben gelaufen ist. Ich habe ja viel über Konflikte gesprochen, aber mein Grundgefühl dem Leben gegenüber ist, daß ich Glück gehabt habe. Daß ich diese Familie
habe, diesen Mann, diese Freunde, das ist ein unglaubliches Glück.
    SPIEGEL :  Wenn Sie heute auf Ihr Leben zurückblicken, das so reich war an Erfahrungen – haben Sie das Gefühl, das ganze Spektrum des Daseins durchmessen zu haben?
    Wolf:  An die äußersten Enden habe ich mich nicht bewegt.
    SPIEGEL :  Weder das größte Glück noch das größte Leid?
    Wolf:  Das größte Leid jedenfalls ist mir erspart geblieben.
    SPIEGEL :  Frau Wolf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
     
    2010

»Bücher helfen uns auch nicht weiter«
    Gespräch mit Evelyn Finger
    DIE ZEIT :  Frau Wolf, gerade ist Ihre Tschernobyl-Erzählung Der Störfall von 1987 neu erschienen. Sie war nicht nur ein Erweckungsbuch für die Umweltbewegung, sondern auch ein dramatischer Höhepunkt Ihres literarischen Schreibens über das Zerstörerische unserer Zivilisation. Der Mensch als Naturkatastrophe: Fühlen Sie sich jetzt in Ihren Prognosen bestätigt?
    Christa Wolf:  Sie wissen ja, daß ich gezögert habe, mit Ihnen dieses Gespräch zu führen. Warum? Meine Hoffnung, daß das, was man nach so einer Katastrophe sagen kann, irgend etwas bewirkt, ist geschwunden. Damals nach Tschernobyl dachten viele: Es kann doch nicht so weitergehen wie bisher. Aber es ging weiter. Das deprimiert mich zutiefst. In Japan hat man über fünfzig Kernkraftwerke auf den Erdbebenboden gebaut. Daß ich vor weiteren Katastrophen gewarnt habe, darin drückte sich auch eine Hoffnung aus, am Ende doch nicht recht zu behalten.
    ZEIT :  Im Vorwort zum Störfall schreiben Sie über die Asche als Metapher der menschlichen Vergänglichkeit und über den Phönix als Sinnbild der Auferstehung und der Ewigkeit.
    Wolf:  Mein Vorwort bezieht sich auf die Aschebilder des Künstlers Günther Uecker, die in der Neuauflage des Störfalls zu sehen sind. Er hat damals, nach dem Reaktorunglück, Asche hergestellt und sich selber hineingelegt. Den menschlichen Abdruck reproduzierte er dann auf Bildern. Leider gewinnt das Buch nun eine Aktualität, die wir nicht zu fürchten wagten.
    ZEIT :  Wie fühlen Sie sich jetzt, als Kassandra-Ruferin der deutschen Literatur, wenn Sie vorm Fernseher sitzen und nach Japan blicken?
    Wolf:  Ich sehe mich nicht als Kassandra. Ich fühle mich wie alle anderen Menschen auch. Jeder, den man trifft, hat die Fernsehbilder gesehen und ist schockiert. Das Gefühl der Fassungslosigkeit und auch des Zorns hat sich so weit verbreitet, daß ich mich da nur einfügen kann.
    ZEIT :  Was war Mitte der Achtziger nach Tschernobyl anders?
    Wolf:  Damals geschah, was keiner erwartet hatte. Diesmal mußte man eine Katastrophe für möglich halten. Und trotzdem ist man auf die Bilder nicht vorbereitet. Ich habe natürlich auch nicht fünfundzwanzig Jahre lang in Angst vor der Atomkatastrophe gelebt. Gerade kamen die neuesten Nachrichten aus Japan, daß nun schon drei Reaktoren von der Havarie betroffen sind, und ich
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