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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Ausdruck für mein Lebensgefühl damals. Es gab für mich keine Alternativen, keinen Ort. Ich habe in der DDR nicht mehr mitgespielt – bin zu keiner Versammlung, keiner Wahl mehr gegangen –, außer wenn ich mich kritisch einmischen mußte, wie beim 11. Plenum 1965 oder beim Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976. Aus meinen Stasi-Akten, auf die man sich doch sonst gern bezieht, geht hervor, daß man mich keineswegs als, wie Sie sagen, verhalten oppositionell, sondern zunehmend als Gegner sah. Und dafür, daß ich dann eine der ganz wenigen Revolutionen der deutschen Geschichte miterleben durfte, hatte es sich gelohnt zu bleiben – auch das steht in meinem Buch.
    SPIEGEL :  Nach der Wende gingen Sie 1992 ausgerechnet in die USA – den Inbegriff der westlichen Welt.
    Wolf:  Absurderweise dachten viele, ich würde dort bleiben, ins Exil gehen. Keine Sekunde habe ich das geplant. Es hatte schon länger diese Einladung gegeben, in Los Angeles ein neunmonatiges Stipendium der Getty-Stiftung anzutreten.
    SPIEGEL :  Genau zu dieser Zeit brach in Deutschland ein Sturm gegen Sie los, was Sie in Ihrem Buch mit Verzweiflung, aber auch mit Humor beschreiben. Sie hatten im Mai 1992 erfahren, daß es bei der Stasi-Unterlagen-Behörde eine sogenannte Täterakte gab, die dokumentierte, daß Sie zwischen 1959 und 1962 sporadisch mit der Stasi zusammengearbeitet hatten. Sie haben dann, als Sie bereits in Amerika waren, in einer Zeitung die Existenz dieser Akte offenbart. Die Medien reagierten mit Härte und Unverständnis, auf einmal waren
Sie nicht mehr die weithin geachtete Schriftstellerin, sondern nur noch IM »Margarete«.
    Wolf:  Was mich störte, ja wütend machte, war, daß man mich nur auf diesen einen Punkt festlegte, daß man meine Entwicklung nicht sah und es nicht einmal für nötig hielt, sich kundig zu machen, was es da sonst noch an Akten gab.
    SPIEGEL :  42 Bände Opferakten, die bezeugen, daß Sie selbst über einen weitaus längeren Zeitraum intensiv observiert worden sind?
    Wolf:  Es kamen später noch die umfangreichen Telefonprotokolle dazu. Und dagegen gab es diesen schmalen Faszikel meiner Gespräche mit der Stasi, die über dreißig Jahre zurücklagen, über den fast ausschließlich geschrieben wurde. Als ich dann, wohl als einzige, die sogenannte Täterakte vollkommen publiziert habe, hat davon keine Zeitung, die mich vorher verurteilt hatte, auch nur Notiz genommen. Es war vielleicht gar keine so schlechte Lehre für mich: Journalisten, denen die Täterakte sofort zugänglich gemacht wurde, hätten sich ja auch für meine Opferakten interessieren können. Aber das war nicht gefragt. Man wollte nicht meine Entwicklung darstellen, die in den sechziger Jahren und danach dazu geführt hat, daß ich observiert wurde. Das hat mich fassungslos gemacht.
    SPIEGEL :  Im SPIEGEL war davon sehr wohl die Rede.
    Wolf:  Ich gebe zu, daß nach Ihrem Bericht noch weitaus schlimmere kamen.
    SPIEGEL :  Wie war es jetzt für Sie, darüber noch einmal ausführlich zu schreiben?
    Wolf:  Das Thema wollte ich nicht umgehen. Im Gegenteil: Es war einer der Anlässe dafür, daß ich das Buch geschrieben habe.
    SPIEGEL :  Sie beschreiben, wie Sie das damals, 1992/93, empfunden haben. Ist Ihr Blick heute ein anderer?
    Wolf:  Natürlich kann ich heute alles mit mehr Gelassenheit sehen. Aber Gelassenheit zu beschreiben wäre ja nicht interessant.
    SPIEGEL :  Wieso haben Sie so lange gebraucht, dieses Buch fertigzustellen – über anderthalb Jahrzehnte?
    Wolf:  Ich habe nicht anderthalb Jahrzehnte ununterbrochen an dem Buch gearbeitet. In dieser Zeit entstanden andere Bücher: Leibhaftig und Ein Tag im Jahr , auch Essays und der Erzählungsband Mit anderem Blick . Außerdem war ich lange Zeit krank. Ich habe aber immer wieder bei diesem Buch angesetzt, das mir wichtig war und ist.
    SPIEGEL :  In Ihrem Buch gibt es immer mal wieder einen abrupten Wechsel zwischen Ich und Du. Sie sprechen sich selbst mit »du« an, was manchmal verwirrend ist. Warum machen Sie das?
    Wolf:  Ich ist die Gegenwartsebene, Du ist die Erinnerungsebene, und ich bin besonders stolz auf die Stellen, wo sich das manchmal im selben Satz bricht. Wissen Sie, ich würde gern so schreiben, wie es im Kopf zugeht. Im Kopf ereignen sich ja die verschiedensten Dinge auf einmal, aber leider kann man nur linear schreiben. Mein Wunschbild für einen Text ist ein Gewebe. Ich möchte ein Gewebe herstellen, wo die Fäden ineinanderwirken
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