Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
Vom Netzwerk:
1
    Die Leiche traf mich nicht unvorbereitet. Ich hatte mit ihr gerechnet. Schon seit Jahren, genauer gesagt seit drei Jahren. Wer einen Hund hält, muss mit einer Leiche rechnen. So steht es häufig in der Zeitung, Stichworte: Hundebesitzer, Wald, Spaziergang, Leichenfund. Ich hätte also eigentlich nicht überrascht sein dürfen. Ich hätte mir mehr Souveränität von mir gewünscht. Aha, jetzt bin ich also dran. Ein wenig früh vielleicht; andere Menschen halten jahrzehntelang Hunde, bevor sie ihre Leiche finden, bei mir geschieht es eher, dafür geht es in anderen Kapiteln langsamer, zum Beispiel in der Liebe, da bewegt sich gar nichts, aber das ist ein Thema, das ich am liebsten ignoriere. Die Leiche jedenfalls konnte ich nicht übersehen, weil Flipper sie nicht überroch. Flipper drehte völlig durch. So hatte er sich noch nie benommen.
     
    Die Hand ragte aus dem Gestrüpp. Drei Finger. Nein, zweieinhalb. Und Flipper war dabei, eine Gewebeprobe zu entnehmen.
    So kannte ich ihn nicht. So wild und knurrend, so völlig außer sich, mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen, die Lefzen zurückgezogen bis zu den Ohren.
    »Hierher!«, befahl ich, meine Stimme beschämend dünn.
Aus Angst vor Jägern war ich Flippers Bellen panisch entgegengerannt. Er wildert nicht. Ich weiß das – aber wissen es auch die Jäger? Flipper gehorcht aufs Wort. Außer in Liebesangelegenheiten. Doch das hier konnte ja wohl keine Liebe sein, auch wenn die lange Flipperzunge wie zum Abschied, letzter Gruß, über die grüngraue Masse leckte, unter der vielleicht die Trümmer eines Jochbeines knorpelten. Jetzt erst bemerkte ich, dass es hier widerwärtig stank. In leeren Augenhöhlen räkelten sich Maden, Maden, Maden. Der Speck war weg. Wo einmal eine linke Wange gewesen sein mochte, grinste mich ein weißlicher Knochen an, keine Ahnung, warum ich Grinsen dachte. Darunter schimmerten gelbliches Fettgewebe und bräunliche Muskulatur, und ich weiß nicht, warum mir dieser Professor mit dem Hut in den Sinn kam, der die Toten plastiniert; ich überlegte sogar eine Weile, wie er hieß. Dabei fiel mir das Surren und Sirren auf. Es wurde immer lauter, und ich wunderte mich, dass es mir nicht schon zuvor aufgefallen war. Fliegen. Dutzende, Hunderte, Tausende. Die Leiche war ein Mann, ich vermutete es wegen der Schuhgröße. Gewesen – musste es heißen. Gewesen wie verwesen. Der Körper lag da – ein schlafender Haufen Lumpen. Und stank. Stank bestialisch und schlief so tief, dass ihn die Ameisen nicht störten, die sich an ihm gütlich taten. Sein Leib war aufgedunsen. Er spürte es nicht. Auch nicht die Dornen, von denen er umrankt war im wild wuchernden Brombeergestrüpp. Nicht die Armee der Käfer, die durch die bräunlichen Felder oberhalb seines Kiefers marschierte. Schwarze Flüssigkeit, Blut wie Brombeergelee, vielleicht aber auch Fäulnis, klebte an seiner grüngrauen Stirn und in den dunkelbraunen dichten Haaren. Schwarze
Käfer, schwarze Fliegen, schwarze Ameisen. Tausende von schwarzen Beinen auf der Haut. Flink, emsig, unerbittlich. Er spürte es nicht. Wie ich. Ich schaute bloß. Lieber hätte ich weggeschaut, aber ich konnte mich nicht bewegen. Vielleicht schaute ich auch gar nicht lange. Vielleicht war es nur ein Sekundenbruchteil. Der längste Sekundenbruchteil meines Lebens. Erst als mir bewusst wurde, dass ich vorsichtig durch den Mund atmete, erreichte mich das Grauen, ich sog es ein mit seinem Brechreiz erregenden herben, süßsauren, scharfen, schneidenden Gestank. Unermüdlich kreisten die Fliegen. Mit gleichmütigem Sirren und Surren starteten und landeten sie auf dem angefressenen Gesicht und dem aufgeblähten Leib voll bräunlicher Riesenblasen, dessen grünlich schimmernde Arme wie Stöcke aus einem schwarzen T-Shirt ragten. Kein Haus, kein Auto, kein Boot stand in gelber Schrift darauf. Und darunter, klein und rot: aber geil ! Eine Fliege krabbelte über meine Lippen. Ich drehte mich weg und kotzte in die Büsche.
     
    Als ich auch noch die Butterbreze losgeworden war, die ich nach dem Training gefrühstückt hatte, und mich in einigermaßen erträglichem Geruchsabstand befand, setzte Flipper sich auffordernd vor mich. Er wartete auf ein Lob. Er hatte schließlich etwas geleistet. Das hier war kein Stöckchen oder Ball, das war eine richtig fette, beziehungsweise faule Beute. Außerdem hatte Flipper sich vorbildlich verhalten. Erst mal bellen. Aufsehen erregen. Die Umgebung auf die Gefahr aufmerksam machen. Hilfe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher