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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
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leckte. Ich schrie so gellend, dass mir die Ohren wehtaten, und Flipper bellte sofort los, und so hockten wir beide im Gras, er bellte, und ich schrie, und es war klar: Dies ist ein Notfall.
    Es kam bloß niemand. Obwohl wir den Notfall im Landkreis Starnberg ausriefen, das ist nah bei München, aber es war Dienstagmittag und kein Wanderer und keine U-Bahn in Sicht, und mein Handy funkte in ein Loch.
    Flipper schaute nach oben. Gott hilf? Und welcher Gott? Darüber konnten wir uns noch nie einigen. Mein Wort ist Gesetz. Er denkt nicht, ich lenke. Oder so ähnlich. Jedenfalls brachte Flipper mal wieder Gott ins Spiel, das macht er gern,
wenn mein Thron wackelt, und ich folgte seinem Blick und entdeckte den Hochsitz. Meine Unaufmerksamkeit beunruhigte mich, es war äußerst unwahrscheinlich, dass der eng an eine Fichte geschmiegte Jägerstand in den letzten paar Minuten aus den Brombeeren geschnellt war, augenscheinlich war der Mann von diesem Hochsitz gefallen, gesprungen, gestürzt … worden. Drei Krähen saßen auf dem maroden Gestänge und beobachteten uns mit schräg geneigten Köpfen. Mir fiel ein, dass ich sie vorhin gehört hatte. Ihr dunkles heiseres Krächzen passte nicht in die üppige, aufgeplatzte, fast schon schwülstig blühende Landschaft. Knallgrüne Wiesen mit knallgelbem Löwenzahn …
    Flipper hob eine Pfote. Naturbeschreibungen sind nicht nach seinem Geschmack. Er markiert lieber gleich.
    »Verstehe«, nickte ich. Es war einen Versuch wert, den ich eigentlich nicht unternehmen wollte, denn der Hochsitz wuchs aus dem Gestank empor. Vielleicht erspürte Flipper die Strahlung meines Netzbetreibers. Vorsichtig atmend und so schnell es mir möglich war, also sehr langsam und mit Füßen, die auf Eislöffelchengröße geschrumpft zu sein schienen, kletterte ich die wacklige Leiter empor, ohne nach unten zu blicken, und reckte mein Handy in die Luft. Flipper hatte recht. Im Display flackerte ein Strich. Sobald ich das Handy ans Ohr hielt, war er weg. Die Krähen auch. Ich hatte sie von ihrem Mittagstisch vertrieben. Nicht daran denken. Und nicht atmen. Also nicht durch die Nase; vorsichtig durch den Mund und nach vorne blicken. Welche Nummer überhaupt? 112? 110?
    Flipper kratzte sich hinterm Ohr, wie immer, wenn er mich diskret darauf aufmerksam machen möchte, dass ich
eine Führungsrolle innehabe. Führungspersönlichkeiten fragen nicht, die handeln: markieren.
    Ich tippte 112 und dann 110. Nichts passierte. In meinem linken Augenwinkel tauchte eine Staubwolke auf, in der ein dunkler Geländewagen steckte, aber zu weit weg, viel zu weit weg – und da …, das war näher: Ein bunter Fleck rechts der wilden Wiese. Ohne nachzudenken, ohne die Aussicht zu genießen über die gelben Teppiche, die sich lasziv vor den Alpen ausrollten, um in den nächsten Wochen roten Klatschmohn in den blauen Himmel zu knallen, hastete ich auf meinen Eislöffelchen die leicht morsch anmutende Leiter des Hochsitzes hinab, würgte und hustete, weil ich falsch geatmet hatte, und rannte Richtung bunter Fleck. Flipper in langen Sprüngen hinter mir, neben mir, ständig wedelnd, sprang in die Wiese und im Zickzack durch den Löwenzahn.
    »Hallo, hallo!«, rief ich dem Radfahrer schon von weitem zu und wurde leiser, als ich erkannte, wer da näher kam. Es war kein Notarzt und auch kein Jäger oder Bauer, wie man erwarten könnte in diesem Umfeld, es war ein Kind, ein Junge.
    »Hallo du!«
    Er trat kräftig in die Pedale, stand sogar auf, um noch schneller voranzukommen . Lass dich nicht ansprechen. Lass dir keine Bonbons anbieten. Auch nicht von Frauen.
    »Hallo du! Bleib doch mal stehen!«
    »Nein!«, rief der Junge und blieb dann doch stehen, beziehungsweise wurde von Flipper stehen geblieben, und zwar so abrupt, dass er vom Rad flog. Im hohen Bogen in die Wiese. Und Flipper hinterher und warf sich flach ins
Gras neben das schlotternde Kind. Ich hob beide Arme hoch, als würde ich von einer Waffe bedroht. Alberne Haltung. Flipper schüttelte den Kopf. Ich ließ die Arme sinken. Normalerweise bin ich die Feinfühligere von uns beiden, auch wenn er mit Kindern besser kann, er liebt Kinder, und dass ich keine habe, wird er mir so lange nicht verzeihen, bis ich ihm welche ins Körbchen lege. Da schlägt der Labrador durch. Ab drei Stück wäre er versöhnt. Am besten wilde Jungs im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. So wie dieser hier, dem der Übermut aus den blauen Augen blitzte, die semmelblonden Haare waren bloß Tarnung.
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