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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
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einen Schock bekommen, besonders wenn jemand im Freien aufgefunden wird und es in den Tagen davor so warm war wie zur Zeit. Das ist wirklich ein scheußlicher Anblick. Da müssen Sie sich gar nicht schämen, das ist ganz normal, wie gesagt, bloß blöd, dass der Arzt weg ist. Vielleicht möchten Sie aber auch ganz schnell zu einem vertrauten Menschen? Kann jemand Sie abholen? Reden hilft manchmal. Haben Sie jemanden angerufen?«
    »Funkloch«, sagte ich knapp und überlegte, wen ich angerufen hätte, wenn ich jemanden hätte anrufen wollen. Mir fiel niemand ein. Platz eins war bei mir nicht besetzt. Während ich über Platz zwei bis fünf sinnierte, stupste Flipper an meine Dreiviertelsommerhose mit Sonnenblumenmotiven, eine peinliche Garderobe für diesen Anlass. Ich spürte seine nasse Schnauze so deutlich, als balanciere er einen angetauten Eiswürfel auf der Nase, und wurde selbst flüssig, beziehungsweise meine Tränen. Ich wunderte mich, wie tief der Tränenberg in mir stak, den ich als furchterregenden Koloss wahrnahm, und dachte an das Bild eines Eisberges, das ich kürzlich gesehen hatte. Nur der allerkleinste Teil war über dem Meeresspiegel sichtbar. Das Verderben lauerte im Untergrund. Genauso wie meine Tränen, und da sollten sie
auch bleiben, alle. Ich würde hier und jetzt ganz bestimmt nicht heulen.
    »Na, was bist du denn für ein hübscher Kerl?«, fragte die Polizistin mit unnatürlich hoher Stimme, in die Menschen sich hineinschrauben, die Angst vor Hunden haben. »Nein, ich hab nichts zu fressen dabei«, quittierte sie Flippers Begrüßungsschnuppern und redete unverdrossen weiter, um ihn sich zum Freund zu machen, damit er sie nicht zerfleischen würde. Flipper warf mir einen gequälten Blick zu. Stell das ab , interpretierte ich.
    »Der ist lieb wie ein Stofftier«, sagte ich.
    Flipper ließ sich ächzend vor meine Füße fallen.
    »Ah ja, ja, natürlich, das sieht man ihm auch an, gell, du bist ein ganz ein lieber Kerl, ja, das habe ich gleich gesehen, dass du ein ganz ein lieber Kerl bist, gell, du.«
    Flipper rollte sich zusammen, und die Frau erinnerte sich an ihren Job.
    »Sollen wir Sie irgendwohin bringen? Zu Ihrem Mann? Ihrer Familie?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wir können auch das Kit rufen«, sagte sie, »unser Kriseninterventionsteam. «
    »Nein, danke«, lehnte ich höflich ab und versuchte herauszufinden, ob ich vielleicht einen Schock hatte, aber ich spürte nichts – ein untrügliches Zeichen für einen Schock, wie ich am nächsten Tag im Internet recherchieren sollte.
    »Sie können gehen«, wurde mir zuerst mehr befohlen, denn geraten, dann sagte einer, ich sollte bleiben, weil noch jemand mit mir sprechen wollte, dann sollte ich am nächsten Tag in die Dienststelle kommen und jetzt bitte warten.
Ich wunderte mich, dass niemand meine Identität anzweifelte. Ich hatte lediglich meinen Namen und meine Adresse genannt. Ich hatte keinen Ausweis bei mir. Auch der kleine Simon hatte keinen Ausweis bei sich gehabt. Aber er hatte den Polizisten sofort gehorcht; in seinem Alter gehörte das Weggeschicktwerden zur Tagesordnung. Er hatte den Toten nicht gesehen, dafür hatte Flipper gesorgt, der dem Jungen den Weg verstellte, sobald er auf einen Baum klettern wollte.
     
    Das Gebiet um den Hochsitz war mit rot-weißen Plastikbändern mit der Aufschrift Polizeiabsperrung gesichert. Der Hochsitz selbst war das Ziel einer eingehenden Untersuchung von zwei Männern mit Hand- und Fußüberschuhen. Weißgekleidete, wie sie im Fernsehen an Tatorten ebenfalls auftauchen, hantierten mit Klebefolie an der Leiter herum. Es gab kleine Schildchen mit Nummern und einen Mann mit Vollbart, der fotografierte. Da die Schutzpolizei in grünen Uniformen steckte, spielte dieser Krimi in Bayern; in anderen Bundesländern agiert die Polizei in Blau. Ein Grüppchen Männer in Zivilkleidung stand neben der Leiche und besprach irgendetwas, drei der Männer hielten sich dabei die Hände vor das Gesicht. Ich selbst hatte mich mittlerweile fast daran gewöhnt, nur wenig und durch den Mund zu atmen. Dies war sozusagen die längste orale Pranayama-Atemübung meines Lebens, mir war schon schwindlig von so viel Kundalini-Energie; wahrscheinlich stand ich kurz vor der Erleuchtung.
    Bis auf den bestialischen Gestank war alles genau wie im Fernsehen. Aber in echt war alles viel unechter als im Unechten; im Fernsehen. Es dauerte auch viel länger als
im Fernsehen. Da wird so eine Tatortbegehung mit zwei, drei
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