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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
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ich schon mal gefragt worden.«
    »Jetzt frage ich.« Sein Ton ließ keinen Zweifel aufkommen, dass allein dies relevant war.
    »Nein.«
    »Auch nicht von seiner Kleidung her? Manchmal erkennt man jemanden an der Kleidung.«
    »Nein.«
    »Haben Sie ihn sich richtig angeschaut?«
    »Nein.« Ich räusperte mich. »Muss ich das?«
    »Es ist besser, wenn Sie nicht genau hingeschaut haben. Viel sieht man ohnehin nicht.« Seine Stimme klang mitfühlend.
    »Natürlich habe ich hingeschaut, sonst hätte ich ihn ja nicht gesehen«, stellte ich richtig. »Aber ich kenne ihn nicht. Ich kenne hier niemanden. Und dass es ein Mann ist, habe ich mir wegen der großen Schuhe zusammengereimt.«
    Der Kommissar nickte. Aufmunternd sah es aus. Eigentlich hatte ich dem nichts hinzuzufügen. Doch ich redete weiter.
    »Ich möchte den Toten wirklich nicht näher kennenlernen«, fuhr ich fort. »Ich komme ja nicht mal mit den Leuten klar, die ich bereits kenne, will sagen, ich kenne viel mehr Leute, als mir lieb ist, und die sind am Leben, da muss ich keine Toten kennenlernen, die ich doch nicht mehr kennenlernen kann.«
    »Hm«, machte der Kommissar. Später sollte mir dieses Hm noch öfter einfallen. Klang es nicht so, als wüsste er mehr, als er mir in diesem Moment zumuten wollte? Und hatte ich
mir selbst nicht bereits viel zu viel zugemutet mit diesem Fremden unterm Hochsitz, den ich angeblich nicht kannte, niemals kennenlernen wollte?
    »Und von wo genau sind Sie gekommen?«
    »Aus München.«
    »Ihre Personalien haben die Kollegen notiert?«
    »Ja.«
    »Sie sind also hier spazieren gegangen und … Was ist dann passiert? Wie sind Sie auf die Leiche aufmerksam geworden? Auch wenn Sie es den Kollegen schon erzählt haben, Frau Fischer, bitte erzählen Sie es mir noch mal.«
    »Ich war auf dem Weg da drüben«, wies ich nach links. »Ich war letzte Woche schon mal hier. Die Gegend gefällt mir sehr gut.«
    »Ja, das ist wirklich ein ganz besonders schönes Fleckchen Erde«, warf der Kommissar ein, als plauderten wir über diesen sagenhaften Mai, der sich als Hochsommer verkleidet hatte, einen Mai, der einem den Klimawandel sympathisch machte.
    »Ja, und dann bellte Flipper wie verrückt. Ich dachte zuerst, er rennt hinter einem Hasen her, wobei er nie, nie, nie wildert.«
    »Selbstverständlich nicht«, warf der Kommissar ein.
    Ich entdeckte keinen Spott in seinen Augen.
    »Er gehorcht aufs Wort«, fuhr ich fort, »deshalb lasse ich ihn ja auch frei laufen. Sein Bellen klang so … anders … irgendwie bedrohlich, so habe ich ihn selten gehört. Ich bin losgerannt«, ich wies mit ausgestrecktem Arm hinter mich, »den schmalen Weg in das kleine Waldstück hinein – und wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, dass ich da
schon etwas gerochen habe, ich meine, dieser Gestank ist ja unüberriechbar, aber in dem Moment war ich auf Flipper konzentriert. Er könnte wo reingetreten sein. Manchmal liegt Stacheldraht rum. Letztes Jahr hat er sich eine Kralle rausgerissen. Ich bin so schnell ich konnte zu seinem Bellen gerannt. Gesehen habe ich ihn erst später. Er stand ja im Gestrüpp. Tja und dann, dann habe ich das andere gesehen. Also ich habe vor allem die Hand bemerkt, das war …«, ich schluckte.
    Der Kommissar drängte mich nicht. Er wartete einfach ab und legte mir sein Schweigen wie eine Decke um die Schultern. Da erst merkte ich, dass mir kalt war. Ich schüttelte mich. Die Decke fiel zu Boden.
    »Und dann?«, hob der Kommissar sie auf, hielt sie zögernd in der Hand, als warte er auf ein Zeichen, ob er sie mir erneut um die Schultern legen dürfte.
    »Dann habe ich versucht, die Polizei anzurufen, aber ich hatte kein Netz. Dann ist der Junge aufgetaucht.«
    »Simon Brettschneider«, mischte sich einer der Schupos ein, während er zwei Männern, die einen Sarg trugen, den Weg wies.
    »Grüß Gott«, nickten die Männer in den grauen Anzügen.
    »Grüß Gott«, nickte der Kommissar zurück, und ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass er aus der Gegend stammte, vielleicht sogar aus München. Ein Münchner verschluckt das Grollen, er grüßt mit scharfem S und Gott. Das Grü hört man nicht. Trotzdem ist es da. Ein gutturaler Schatten. Beim Kommissar stimmte der Sound. Hundert Pro.
    Er wandte sich seinem Kollegen zu, der unaufgefordert rapportierte, während die beiden Sargträger die graue Kiste
abstellten. Einer der Träger nutzte die Pause, sich eine Zigarette zwischen die Lippen zu stecken.
    »Der Junge wohnt in Wampertskirchen.
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