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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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eine grundsätzliche Kritik auch am kapitalistischen System seien. Freut Sie das?
    Wolf:  Es wundert mich eher, daß eben doch nicht viele dazu bereit sind, diese existentielle Krise wirklich als Signal zu begreifen.
    SPIEGEL :  Weil heute jede Vorstellung davon fehlt, wie eine andere Gesellschaftsform aussehen könnte?
    Wolf:  Da haben Sie recht.
    SPIEGEL :  Und wenn die globale Krise sich zuspitzt?
    Wolf:  Das kann sich niemand wünschen. Die Katastrophe wäre dann so groß, daß ich mich davor fürchten würde – auch für meine Kinder und Enkelkinder. Allerdings stellen sich mehr Menschen als noch vor zehn Jahren solche Fragen. Vielleicht geht von ganz anderen Weltgegenden und Gesellschaftsentwürfen eine Umwälzung aus. Aber ich will keine Kassandra-Rufe ausstoßen.
    SPIEGEL :  Die Autorin des berühmten Kassandra -Texts will nicht orakeln?
    Wolf:  So ist es.
    SPIEGEL :  Wir haben in dem Jahrhundert, das hinter uns liegt, verschiedene Gesellschaftsformen ausprobiert, und nun sind wir ratlos. Läßt sich aus der Geschichte doch nichts lernen?
    Wolf:  Zumindest ließe sich lernen, wie man es nicht machen sollte. Das ist doch schon mal was. Und dann hoffe ich ja doch, daß der Dialog der Generationen nicht ganz wirkungslos bleibt. Ich merke, daß gerade die junge Generation uns Ältere sehr intensiv und interessiert befragt. Und ich habe den Eindruck, daß es gerade mit den Jüngeren möglich ist, frei und ohne gegenseitige Abwehr zu sprechen.
    SPIEGEL :  Sie haben sich ja in eigentlich allen Ihren Büchern einer intensiven Selbstbefragung unterzogen. Das ist es auch, was mindestens und ganz sicher von Ihnen bleiben wird: die Genauigkeit, mit der Sie sich handelnd betrachten und offenbaren. Sie schildern, wann Sie mutig waren, Sie gestehen auch ein, wann Sie feige waren. Mit Ihrer eigentlich durchgängig ambivalenten Haltung sich selbst gegenüber und den jeweiligen politischen Systemen, in denen Sie nach dem Krieg lebten, machen Sie sich aber auch angreifbar, liefern anderen das Einfallstor für Kritik.
    Wolf:  Aber auch für sehr viel Zustimmung, ja Zuneigung, von den sogenannten normalen Lesern. Glauben Sie wirklich, daß die Aufgabe von Literatur heute wäre, sich abzuschotten oder nur die Oberfläche zu beschreiben? Ich jedenfalls könnte nicht schreiben, ohne »der Spur der Schmerzen« nachzugehen, wie es in meinem Buch heißt. Schreiben ist für mich nun mal Selbstbefragung, die Auseinandersetzung mit Konflikten. Ich schreibe, um mich selber kennenzulernen, soweit es geht. Da kann man sich nicht schonen.
    SPIEGEL :  Aber Sie schreiben auch, daß in einer Situation, in der Sie sowieso schon unzählige Feinde haben, jede Zeile, die Sie nun schreiben, gegen Sie verwendet werden kann. Sie schmieden sich selbst ein Damoklesschwert.
    Wolf:  Ich habe auch unzählige Freunde. Das bemerken die Medien natürlich nicht. Ich schmiede auch kein Damoklesschwert. Das Schreiben, so wie ich es verstehe, ist mir eine große Befriedigung. Und ich habe, obwohl ich nach so langer Zeit der Arbeit wirklich nicht mehr naiv bin, komischerweise noch immer so ein Grundvertrauen in den Anstand vieler Menschen. Außerdem weiß ich, während ich schreibe, für welche Passagen ich wahrscheinlich kritisiert werde, aber gleichzeitig denke ich immer: Warum sollten die Leute nicht bemerken, daß ich versuche, ehrlich zu sein?
    SPIEGEL :  Die DDR und Ihre Erlebnisse in den USA sind die Hauptthemen Ihres Buchs, aber es gibt einen weiteren Aspekt. Der Titel heißt vollständig Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud . Ein Mantel, den einst Sigmund Freud getragen haben soll, ist ein wiederkehrendes Motiv.
    Wolf:  Der Titel des Buchs soll zunächst auch darauf hindeuten, daß es hier nicht so sehr um die Ereignisse geht, sondern darum, wie sie sich in einer Person spiegeln und wie sie auf die Personen wirken. Die psychologische Nachfrage ist für mich tatsächlich das Entscheidende, das Psychogramm.
    SPIEGEL :  Als ein befreundeter Analytiker Ihnen in Ihrer Zeit in Amerika, also mitten in der Krise, am Telefon riet, ei
ne Therapie zu machen, haben Sie das von sich gewiesen. Warum?
    Wolf:  Weil ich das Schreiben habe. Das ist in einer Krisensituation ein guter Begleiter.
    SPIEGEL :  Sie sind nicht nur zu einer öffentlichen, sondern auch zu einer historischen Figur geworden. Wie halten Sie es aus, daß das Bild von Ihnen, das Sie selbst mitgeschaffen haben, wegen der tiefen Konflikte, in die Sie gerieten,
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