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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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frage mich, was, wenn Radioaktivität austritt, aus all den Menschen in diesem dichtbesiedelten Gebiet werden soll. Und wer eigentlich den Umkreis der Evakuierung bestimmt. Und warum es ausgerechnet zwanzig Kilometer sind und nicht dreißig oder vierzig. All das bestärkt mich in meiner Meinung, daß die Technik nicht beherrschbar ist. Schon allein die Frage der Endlager: Wie kann man eine Technologie ausbauen, die strahlenden Abfall hervorbringt, für den es keine Lösung gibt? Das allein hätte doch Grund genug sein müssen, diese Atomenergie nicht zu nutzen. Wann lernen wir eigentlich, uns selbst zu beherrschen? Unsere maßlosen Bedürfnisse, die so viel Energie kosten?
    ZEIT :  Die Maßlosigkeit und das Selbstzerstörerische unser Gattung gehören zu Ihren großen Themen. Ist der Mensch eben doch nicht aufklärbar?
    Wolf:  Schon in den achtziger Jahren war das Ziel der Industriestaaten Wachstum, Wachstum, Wachstum. Jetzt haben wir uns endgültig in dem Widerspruch verfangen: Je bequemer wir leben, auch durch die massenhafte Herstellung zum Teil überflüssiger Industriewaren, desto näher kommen wir einer Zerstörung unserer Welt. Das ist vielleicht der Grund, warum ich noch öffentlich spreche: Wir müssen das Dilemma unserer
Gesellschaft endlich diskutieren. Vielleicht bestärke ich andere Menschen.
    ZEIT :  Jetzt streiten die Ingenieure, ob man die Reaktoren in Japan für stärkere Erdbeben absichern müßte. Das Restrisiko bleibt aber dasselbe: die Zerstörung des Planeten. Wie haben Sie als Nicht-Ingenieurin den atomaren GAU recherchiert?
    Wolf:  Ich habe mir zum Beispiel Material besorgt über die Folgen von Radioaktivität für jene bedauernswerten Menschen, die verstrahlt worden sind. Man hat ja damals Helfer in das verseuchte Gebiet getrieben ohne jeden Schutz. Es war klar, daß sie nicht überleben. Ich denke andauernd daran, wie es diesmal für die Menschen sein wird. Gerade habe ich gehört, daß ein US -amerikanisches Schiff direkt durch eine radioaktive Wolke gefahren ist. Was da noch passieren mag: Ich verdränge das, ich versuche es mir nicht auszumalen und auch nicht darüber zu sprechen. Das ist beinahe schon Aberglauben.
    ZEIT :  Wie wäre einer Menschheit zu helfen, die aus ihren Fehlern nichts lernt?
    Wolf:  In Japan scheinen die Menschen unendlich technikgläubig zu sein. Man müßte sie fragen: Was ist eigentlich das Ziel unseres Daseins? Momentan wohl Profit, den wir in einem tödlichen Wettkampf zu erlangen versuchen. Die Utopien unserer Zeit treiben Monstren hervor. Aber das ist den meisten Menschen nicht bewußt, denn sie leben ja mitten in ihrer Zeit und können sich aus dem Hamsterrad des Fortschritts nicht lösen. Vielleicht kann ein Unglück wie dieses doch ein Nachdenken über andere mögliche Wege anstoßen. Aber wie soll man all die Menschen in eine andere Richtung lenken? Dafür reicht meine Phantasie nicht aus. Der Forscherdrang hat sich immer weiter in diese eine Richtung entwickelt: Was machbar ist, wird gemacht. Und wenn ein Land aus moralischen Gründen etwas nicht macht, macht es das andere. Und weil beide das voneinander wissen, machen sie weiter. Wir schaffen es einfach nicht, diese Entwicklung, die wir »Fortschritt« nennen, zu bremsen.
    ZEIT :  Früher dachte man, daß die Literatur geeignet wäre,
der Menschheit die Augen über sich selbst zu öffnen. Glauben Sie noch daran?
    Wolf:  Kaum. Alles, was ich dazu sagen kann, würde sehr naiv klingen. Wenn ich zum Beispiel sage, daß ich mir statt eines zerstörerischen Wettlaufs eine solidarische Gesellschaft wünsche, weiß ich doch, wie lächerlich das auf einflußreiche Mächte wie die Atomlobby wirken muß. Die lachen sich über die Idee eines solidarischen Miteinanders krank.
    ZEIT :  Es gab und gibt aber friedliche Revolutionen, in denen kritische Intellektuelle eine wichtige Rolle spielen. Und es gibt neuerdings wieder Bürgerproteste in Deutschland.
    Wolf:  Na gut, ich will das Wort von der totalen Hoffnungslosigkeit ein bißchen einschränken. Denn ich habe gegen Ende der DDR gelernt, daß völlig Unerwartetes in der Geschichte möglich ist. Da bin ich ganz auf der Seite der protestierenden Bürger, die Unvernünftiges zurückweisen und produktiv Entscheidungen erzwingen wollen. Allerdings glaube ich, daß größere Menschenmassen eher nicht von der Ratio, sondern von ihren Wünschen und Instinkten angetrieben werden. Dem müßte man eine utopische Richtung geben. Da könnte Literatur noch
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