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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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gewöhnlicher Familien ohne Glanz weit größere Gefahren auf.
    Von Bestrafung konnte keine Rede sein, eher von Ermahnung. Er schlug mit einer Kleiderbürste, die jedes Mal, wenn sie traf, ein lautes Klatschen erzeugte, allerdings stand das Ergebnis in keinem Verhältnis zu dem Geräusch. Wie alles andere in der Stadt der vornehmen Familien waren auch die Schläge symbolisch.
     
    Carl hatte die Erziehungsmethoden seines Vaters niemals angezweifelt. Die kleineren Geschwister der Kinderschar jedoch taten es. Einer nach dem anderen kam zu ihm und fragte mit den Händen auf dem Hintern, ob er als der Älteste nicht das Vertrauen des Vaters genießen und die Antwort kennen würde.
    »Warum schlägt uns Vater? Wir haben doch nichts Falsches getan.«
    Carl zuckte die Achseln. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und die Ohnmacht entfachte seinen Zorn.
    »So ist das einfach«, erwiderte er kurz angebunden.
    Er spürte, dass ein Teil des Unergründlichen in den Handlungen der Erwachsenen in diesem Augenblick auf ihn überging und er sich ein wenig von ihrem Glanz borgte.
     
    Das sonntägliche Ritual fand nach dem Kirchgang statt, die Zeit der Predigt verbrachte Carl unruhig. Er litt bei dem Gedanken an die kommende Erniedrigung. Denn um eine Erniedrigung handelte es sich. Die Bestrafung fesselte ihn an eine kindliche Welt, die er am liebsten längst verlassen hätte, und doch musste er dem Befehl gehorchen und sich den Hosenboden stramm ziehen lassen.
    Ob Pastor Fabricius zu den vornehmen Familien der Stadt gehörte, wusste man nicht. Fabricius hatte sich damit abfinden müssen, dass Postmeister Kaffkas Gemälde von der Grablegung Jesu im Kirchenschiff aufgehängt wurde. Der Postmeister hatte 1848 am Krieg teilgenommen und hielt sich selbst für einen Künstler – eine Ansicht, der sein Bild in Carls bereits kritisch geübtem Blick in jeder Beziehung widersprach. Aber Kaffka gehörte zu den vornehmen Familien, und so war es am klügsten, das Gemälde von Jesus’ toten Gebeinen mit Kennermiene zu loben, obwohl der gekreuzigte Sohn Gottes eher einem entrindeten Baumstamm glich. Eines Sonntags predigte der Pastor über die Selbstsucht, der die Freude unbekannt war, eigene Vorlieben und Neigungen aufzugeben, um anderen zu helfen.
    »Sie kennen nichts anderes, als stets an sich selbst zu denken und jede ihrer Handlungen nach dem Vorteil zu bemessen, den sie daraus ziehen können. Wie sehr fehlt es uns doch an Liebe.«
    Pastor Fabricius schickte einen herausfordernden Blick über die Gemeinde. Meinte er die vornehmen Familien der Stadt? Die meisten sahen vor sich hin und verzogen keine Miene, aber einzelne, darunter Carl, schlugen den Blick nieder.
    Fabricius’ Tonfall wurde wieder versöhnlicher, wie immer, wenn sich seine Predigt dem Ende zuneigte.
    »Wir haben keine andere Hoffnung, als dass der Herr uns nicht nach unseren Worten, Gedanken und Taten richten wird, sondern mit seiner gnädigen Liebe über uns urteilt, denn sonst könnten wir nicht selig werden.«
    Jedes Wort traf Carl wie ein Schlag, und die Wörter säten in ihm eine stete Ungewissheit über die Echtheit seiner Gefühle. Niemals traf er einen Entschluss ohne diese zermürbende Mischung aus Zweifel und Schuld: »Bin ich selbstsüchtig?«
     
    Zu Hause wartete Mutter mit dem Essen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit seidenbestickten Kanten und Zierknöpfen. Es war ihr Sonntagskleid, das sie in den kurzen Perioden zwischen ihren rasch hintereinander folgenden Schwangerschaften mit einem Gürtel schmückte, dessen Schnalle eingelegte Emailleblumen zierten. Wenn der Gürtel verschwand, galt dies als sicheres Zeichen, dass Familienzuwachs zu erwarten war. Carl sah es vor sich, wie die Ungeborenen in einer langen Reihe draußen auf der Nørregade standen. In regelmäßigen Abständen öffnete die Mutter die Tür, um einen weiteren Bewohner in das längst überfüllte Haus einzuladen, und kurz darauf hatten sie sich für das sonntägliche Ritual aufzustellen.
     
    Der hellste Glanz ging vom Nachbarhaus aus. Ærøskøbing war eine zu kleine Stadt, als dass die verschiedenen Stände in getrennten Vierteln hätten wohnen können. Die vornehmen und die weniger vornehmen Familien wohnten wild durcheinander. Nicht die Adresse zählte, sondern die Größe des Hauses. Rasmussens hatten drei Zimmer für dreizehn Personen. Gleich um die Ecke in der Brogade verfügte Claus Christian Hinrichsen im ehemaligen Rentmeisterhof über zwei Etagen mit zwölf hohen Zimmern für sich und
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