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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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Ähnlichkeit mit den gewaltigen Bauwerken im Wüstensand gewählt, um ihre Überlegenheit über den verlassenen Gott zu zeigen, der nur über eine winzige, zerbrechliche Kirche herrschen konnte.
    Die Südmauer der Kirche bröckelte, stand aber noch. Die Holztüren und -decken waren längst verschwunden, stattdessen beherrschte der grönländische Himmel den ehemals so dunklen Kirchenraum. Früher hatte dort ein Taufbecken aus Topfstein gestanden. Dort musste eine geschnitzte Altartafel gehangen haben, davor gab es einen Altar mit silbernen Kerzenleuchtern und einem Altartuch, auf dem während der Messe die geweihte Hostie lag. Jetzt hatte die Natur die Dekoration übernommen. Auf den Mauern wuchsen Flechten, und Carl ging auf einem weichen Teppich aus Moos und Grasbüscheln zum Chor hinauf.
    Auf der Erde vor ihm glitzerte es. Er bückte sich und fand eine Scherbe aus grünem Glas, das einmal in den schmalen Fenstern gesessen hatte. Er blickte auf das gewölbte Chorfenster des Ostgiebels, an dem der Baumeister sich abgemüht haben musste. Gewölbt hatte es sein sollen. Hier dachte man nicht an schlichten Nutzwert. Hier wollte man kühn zum Himmel streben. Die Nordländer waren keine Kinder dieser mächtigen Natur gewesen, sie waren ihre Herausforderer. Carl schloss die Augen und stellte sich den Besuch des Bischofs von Gadar vor, mit Goldring und einem Bischofsstab aus Esche, dessen gekrümmtes Oberteil aus einem kunstfertig geschnitzten Walrosszahn bestand.
    Er trat vor die Kirche, um einen Winkel zu finden, aus dem er mit seiner Skizze beginnen konnte. Jonas lag mitten in einem Blumenfor aus Fettkraut, Weidenröschen und Glockenblumen auf der Wiese und schlief. Ein Rabe landete ein Stück entfernt und starrte ihn mit seinen Steinkohle-Augen an. Carls Hand hielt kurz vor dem Papier inne.
    Er dachte an Eckersbergs »Blick vom Kolosseum«, der Aussicht vom obersten Stockwerk der mächtigen Ruine. Das massive Mauerwerk bildete den Rahmen der Darstellung. Der Mensch war das Maß aller Dinge, und die Natur musste weichen. Nach Rom zogen die Maler auf ihren Bildungsreisen, und eines Tages würde auch er in den Süden kommen. Aber nun hatte er als Einziger die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, in den äußersten Norden. Auch hier warteten Motive auf den Pinsel eines Malers, und niemand vor ihm hatte sie je gemalt.
    Carl hatte den Besuch der Kirche auf Hvalsø lange geplant, doch erst in diesem Moment, als der Blick des Raben auf ihn fiel, wurde ihm klar, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Es schien nicht nur ein Gedanke zu sein, der ihm unerwartet durch den Kopf schoss. Nein, es war eher eine schwindelerregende Übelkeit, ein Anfall wie bei einem Fieberkranken, der von unbegreifichen Erscheinungen heimgesucht wird.
    Was unterschied die Ruinen Roms von dieser zerfallenen Kirche vor ihm? Es ging nicht nur um die Proportion, das gewaltige Kolosseum gegen eine winzige Kirche. Das Römerreich war untergegangen, aber nicht die eingefallenen Barbaren hatten über Roms Zukunft entschieden. Im Gegenteil, eine höhere Gesellschaftsform wurde geboren, als das einst so mächtige Weltreich zusammenbrach. Von den Ruinen des Kolosseums hatte Eckersberg die Aussicht auf eine christliche Stadt.
    Carl war im großen Europa noch nicht weit herumgekommen. Er hatte viele Ausstellungen besucht und unzählige Gemälde gesehen, auch von Ruinen, allerdings hatte es sich immer um Darstellungen früher Zivilisationsreste gehandelt. Noch nie hatte er das Bild einer Kirchenruine gesehen. Sødring hatte in den dreißiger Jahren die großen Steinbrocken gemalt, die über den Marmorplads in Kopenhagen verteilt lagen und darauf warteten, dass die unvollendete Kirche irgendwann einmal fertiggestellt würde. Nur handelte es sich dabei nicht um eine Ruine, sondern um einen Bauplatz, auf dem seit hundert Jahren nichts mehr passierte, ein unerfülltes Versprechen, ein Anfang. Doch bei der Kirche auf Hvalsø ging es um ein Ende.
    Es lag außerhalb von Carls Vorstellungskraft, dass irgendwann einmal eine neue Gesellschaftsform diejenige ablösen könnte, die auf dem Glauben basierte – oder dass danach überhaupt nichts kommen sollte. Wer sich die Mühe machte, weit vorauszudenken, wusste, dass am Ende der Geschichte – wenn das Irdische in das Himmlische überging – Frieden und Erlösung warteten. Die verschiedenen Epochen hatten Kirchen in immer neuen Stilarten gebaut, aber ein Ersatz für Gottes Haus schien ihm ein unmöglicher Gedanke. Die
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