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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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Schneiders aus dem Nachbarhaus erblickte, musste er selbstverständlich tun, was er bereits mit dem Rest der Stadt getan hatte – in dessen Schicksal eingreifen und es verändern.
    »Was haben wir denn da?«, fragte er und ließ sich von dem Dienstmädchen das Päckchen geben.
    Er begann sofort auszupacken. Alles an ihm war Unrast, und kurz darauf hielt er eine Samtmantille für die Dame des Hauses in den Händen. Doch plötzlich zögerte er und beugte sich vor, als hätte er ein Detail gefunden, das seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte.
    »Na, so was, was sagt man denn dazu«, sagte er, »hier haben wir ja einen Künstler.«
    Carl sah verwirrt zu. Er wusste nicht, ob er sich im Namen seines Vaters geschmeichelt fühlen durfte. Doch Hinrichsen meinte gar nicht den Vater. Er faltete vor Carl das Packpapier auseinander, der eine seiner Skizzen wiedererkannte. Eines Tages war er zu der kleinen Insel Drejø gerudert, auf der im Sommer die Kühe grasten, um die Stadt von der Seeseite zu zeichnen. Im Vordergrund lagen Schiffe auf Reede vor Anker. Hinter der Stadt, die er detailliert mit der kupfergedeckten Kirchturmspitze in der Mitte wiedergegeben hatte, erhoben sich die Hügel von Ærø. Mit der dramatischen Wolkenlandschaft, die über der Insel lag, hatte er sich besondere Mühe gegeben.
    Der Vater hatte die Zeichnung zum Einpacken verwendet. Ob er die Zeichnung übersehen hatte oder sie wertlos fand, wusste Carl nicht.
    Meine Schuld, dachte er, schließlich habe ich sein Papier benutzt.
    »Komm, komm!«
    Hinrichsen winkte ihm zu und stürmte die Treppe hinauf in die erste Etage.
    »Talent muss man pfegen«, tönte es von oben, »und Talent hast du.«
    Hinrichsen stand auf dem Treppenabsatz und zwinkerte ihm zu, als gehörte Carl von nun an zu den Auserwählten.
    »König Artus«, sagte er, »kennst du die englische Legende?«
    Carl schüttelte den Kopf.
    »Um sein Anrecht auf den Königsthron zu beweisen, sollte er versuchen, ein Schwert aus einem Stein zu ziehen, in dem es feststeckte. Kräftige Männer hatten bei dem Versuch aufgeben müssen. Das Schwert ließ sich nicht bewegen. Und Artus? Er war nur ein schmächtiger Junge. Doch er zog das Schwert aus dem Stein. Mühelos. Diese Mühelosigkeit hast du. Es liegt eine Selbstverständlichkeit in deinem Strich, die Talent verrät.«
    Hinrichsen war gerührt von seinem eigenen Redestrom und musste schlucken. Er hatte einen Kloß im Hals.
    »Das Recht auf den Thron«, wiederholte er und zwinkerte.
    Er führte Carl in ein hohes Zimmer mit einem Sofa-Arrangement aus dunklem Mahagoni. Über dem Sofa hing das Bild eines Sonnenaufgangs über dem Meer. Es gab so gut wie keine Brandung. Hell leuchtende Wolken schwebten direkt über dem Horizont, wo sich die Sonne in einer Lücke sehen ließ. Weiter oben verdunkelten sich die Wolken zu einem drohend graublauen Ton, als würde die Nacht noch zögern, den Platz dem Tag zu überlassen.
    »Lundbye«, sagte Hinrichsen lakonisch und wies auf das Gemälde. »Ja, das ist der Name des Malers. Wie du siehst, haben es ihm die Wolken angetan. Genau wie dir.«
    Er ging an einen Bücherschrank, dessen Tür halb offen stand, zog ein kleines Buch heraus und überreichte es Carl.
    »Hier«, sagte er, »das sollst du haben. Lies es. Dadurch erfährst du mehr über Wolken. Alle dänischen Maler lesen es. Lundbye …«, er zeigte noch einmal auf das Gemälde, »glaub mir, er hat es auch gelesen.«
    Hinrichsen stand jetzt so nah bei Carl, dass es den Anschein hatte, als wollte er ihm diese ungeheure Energie übertragen, die in seinem Körper hauste und weder ihn noch die Stadt ruhen ließ.
    Carl sah sich das Buch an. Der Wolkenhimmel lautete der Titel. Der Autor war B. S. Ingemann. Er hatte den Namen schon einmal gehört.
    »Du bist ein Maler. Das sieht jeder. Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie wir dich auf den rechten Weg bringen. Meisterwerke gehören nicht auf Packpapier.«
    Er musterte Carl, der den Blick niederschlug.
    »Schneidersohn«, sagte Hinrichsen, »das ist kein Hinderungsgrund. Hans Christian Andersen ist der Sohn eines Schuhmachers. Es wächst und gedeiht im dänischen Volk. Wir alle haben etwas beizutragen.«
    Er begann, Carl auszufragen. Skizzenblock, ordentliches Papier, Kohlestifte, Staffelei, Palette, Ölfarben? Hatte er etwas davon?
    Bei jedem Utensil, das er nannte, schüttelte Carl den Kopf. »Einen Lehrer können wir dir hier in Ærøskøbing vermutlich nicht beschaffen. Es sei denn, du willst dich von unser aller
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