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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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aus Seeleuten besteht. Es ist dennoch keine herausragende Arbeit.«
    »Da bin ich aber ganz und gar nicht Ihrer Ansicht«, erwiderte Anna Egidia mit einer Barschheit, die sie selbst überraschte.
    Der Kunstkenner begriff, dass er einen Fehler begangen hatte, und lobte Carl erneut in den höchsten Tönen. Aber es war zu spät, und kurz darauf bedeutete ihm Anna Egidia, dass die Besuchszeit beendet wäre.
    Sie wusste nicht genau, wen der Kunstkenner beleidigt hatte: Jesus oder Carl. Möglicherweise beide. Jesus lebte für sie, dank Carl. Sie war keine bibelfeste Gläubige. Sie hatte ihre Kinder im Glauben an Jesus Christus erzogen und mit ihnen das Abendgebet gesprochen, aber ihre Beziehung zu Jesus war eher intim als öffentlich. Wenn sie abends im Bett oder auf der harten Kirchenbank außerhalb des Gottesdienstes mit ihm füsterte, kam es ihr fast vor, als spräche sie mit Carl. Er war der erste ihrer vielen Toten gewesen, aber es gab kein Grab, zu dem sie gehen, das sie pfegen konnte. Sie hatte die Altartafel.
    Wenn sie bei Hinterbliebenen saß, erwähnte sie stets Jesus, aber in füsternder Vertraulichkeit, als wäre er ein guter Bekannter, und vielleicht hatten ihre Worte deshalb diese Wirkung. Als wäre Jesus zusammen mit ihr eingetreten, und nun saß er still bei ihnen und nickte bestätigend zu jedem ihrer Worte.
     
    Anna Egidia wurde Großmutter von vierzehn Enkeln. Sie hatte sich in vierzehn kleine Seelen einzuleben, sich an vierzehn Geburtstage zu erinnern, mit vierzehn Enkeln Weihnachten zu feiern – vierzehn Kinder, die sie, in ihrem schwarzen Seidenkleid, beiseitenehmen und an der Hand halten musste, um die entscheidenden Worte auszusprechen: Mutter oder Vater ist jetzt im Himmel.
    Sie nickten. Sie wussten es bereits von dem Augenblick, als sie das Kleid sahen. Es handelte sich um ein Wissen, das von Vetter zu Cousine wanderte, von Cousine zu Vetter: Wenn Großmutter das feine Kleid anzieht, ist Mutter tot. Wenn Großmutter das feine Kleid anzieht, ist Vater tot.
    Die Kinder glaubten, es wäre der Lauf der Natur, dass die Mutter oder der Vater vor der Großmutter starben. Anna Egidia wurde so wichtig für sie. Durch sie lernten ihre Enkel die Kürze des Lebens und den Glauben an die Unsterblichkeit kennen.
    Wenn Anna Egidia die traurige Nachricht verkündete, sah sie in den Augen der Kinder die Welt unter ihren Füßen versinken wie ein leckgeschlagenes Schiff. In ihren Seelen stieg das kalte schwarze Wasser immer höher.
    Sie bat Anna, Morten, Svend Aage und Johan, die Hände zu falten. Ihren Vater, Karl Johan, hatte man auf seinem brennenden Schiff niedergeschossen.
    »Seht«, sagte sie zu ihnen, »so mache ich das, wenn ich mit Großvater Carl spreche, den ihr nie kennengelernt habt, weil er starb, lange bevor ihr geboren wurdet. Wenn der Herrgott sieht, dass ihr die Hände faltet, wird er dafür sorgen, dass euer Vater zuhört, und dann werdet ihr niemals allein sein, obwohl ihr euch vielleicht gerade so fühlt.«
    Sie falteten ihre Hände, und sie sah in ihren Augen, wie das schwarze Wasser zurückwich und die Welt aufs Neue unsinkbar wurde. Sie waren nicht mehr allein. Sie hatten sie. Sie hatte hinter Mutter und Vater gestanden. Nun stand sie vor ihnen.
    Unten am Hafen schrie eine Möwe einen Gruß von dem ertrunkenen Maler, der eins geworden war mit dem Meer, und die Kinder hörten es und glaubten, es wäre ihr Vater, der antwortete.
     
    Alles ist vorläufig, die Höhe eines Berges, die Kurve einer Küste, die Tiefe des Meeres. Eine Insel entsteht, wird zu einem Werder und wieder zur Insel. Das Land hebt und senkt sich. Die Kontinente fießen. Ein Menschenleben ist zu kurz. Dann ändert es sich wie eine Wolkenformation, von Stratus zu Stratokumulus, von Stratokumulus zu Zirrus, doch manchmal entstehen diese Augenblicke namenloser Ewigkeit.

Rasmussens letzte Reise ist ein Roman, dessen Personengalerie im Großen und Ganzen auf realen Personen basiert. Von Carl Rasmussens Familie habe ich die Erlaubnis, seinen Namen zu verwenden, der Roman folgt den Ereignissen seines Lebens. Seine Gedanken, inneren Konfikte und sein persönliches Dilemma sind aber meine Erfindung. Die Umstände des Todes von Carl Rasmussen wurden in einem Seeverhör verhandelt, danach war der Fall für die Behörden offiziell geklärt, obwohl letztendlich nicht alle Zweifel ausgeräumt werden konnten. Es gab 1893 keinen blinden Passagier an Bord der Peru, das plötzliche Auftauchen von Jonas entspringt meiner
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