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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel
Autoren: Dennis Lehane
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Port Mesa, Texas Oktober 1998
    Lange bevor die Sonne über dem Golf aufgeht, fahren die Fischerboote in die Dunkelheit hinaus. Die meisten sind auf Garnelenfang, manche fischen nach Mariinen oder Tarponen. In den Booten sitzen fast ausschließlich Männer. Die wenigen Frauen, die auf Garnelenfang gehen, bleiben meistens unter sich. Hier, an der Küste von Texas, wo im Laufe von zweihundert Jahren Seefahrt so viele Männer qualvoll ihr Leben lassen mußten, sind ihre Nachkommen und Überlebenden der Überzeugung, daß ihre Vorurteile, ihr Haß auf die vietnamesische Konkurrenz und ihr Mißtrauen gegenüber Frauen in diesem grausamen Job gerechtfertigt sind, in dem man im Dunkeln mit schweren Trossen und Haken herumfuhrwerkt und sich dabei oft genug die Hände zerschneidet.
    Frauen, sagt ein Fischer in der Schwärze vor Sonnenaufgang, und der Kapitän fährt den Motor des Trawlers im schiefergrauen, aufgewühlten Meer auf ein leises Brummen herunter, Frauen sollten so sein wie Rachel. Das ist eine Frau.
    Ja, das ist eine tolle Frau, stimmt ein anderer Fischer zu. Verdammt noch mal, ja.
    Rachel ist noch nicht lange in Port Mesa. Sie tauchte einfach im vergangenen Juli mit ihrem kleinen Sohn in einem zerbeulten Dodge-Pickup auf, mietete ein kleines Haus nördlich der Stadt und nahm das Schild mit der Aufschrift »Aushilfe gesucht« aus dem Fenster von Crockett’s Last Stand, einer auf altem Pfahlwerk gebauten Hafenkneipe, die langsam dem Meer entgegensackt.
    Es dauerte Monate, bis überhaupt jemand ihren Nachnamen erfuhr: Smith.
    Port Mesa zieht viele Menschen namens Smith an. Auch ein paar mit Namen Miller. Die Hälfte der Schleppnetzboote ist mit Männern besetzt, die auf der Flucht sind. Sie schlafen, wenn der Rest der Welt auf den Beinen ist, und arbeiten, wenn der Rest der Welt schläft. In der übrigen Zeit trinken sie in dunklen Spelunken, in die sich kaum ein Fremder traut. Sie folgen den Fischschwärmen und den Jahreszeiten, kommen im Westen bis Baja, im Süden bis nach Key West und werden bar bezahlt.
    Dalton Voy, der Inhaber von Crockett’s Last Stand, zahlt Rachel Smith in bar aus. Er würde sie in Goldbarren entlohnen, wenn sie wollte. Seitdem sie ihren Platz hinter der Theke eingenommen hat, ist der Umsatz um zwanzig Prozent gestiegen. Seltsamerweise gibt es auch weniger Schlägereien. Wenn die Kerle normalerweise aus ihren Booten steigen, die Sonne ihnen den ganzen Tag auf den Pelz gebrannt und ihr Blut erhitzt hat, sind sie reizbar und schlagen nicht selten mitten in einem Wortwechsel mit einer Flasche oder einem Billardqueue zu. Und wenn schöne Frauen in der Nähe sind, stachelt das nach Daltons Erfahrung die Männer nur noch mehr an. Zwar lachen sie schneller, aber sie fühlen sich auch schneller angegriffen.
    Aber irgendwas an Rachel beruhigt die Männer.
    Und macht sie vorsichtig.
    Etwas in ihren Augen - ein kurzes Aufflackern, erbarmungslos und kalt, wenn jemand einen Schritt zu weit geht, ihre Hand zu lange berührt oder einen sexistischen Witz macht, der nicht lustig ist. Und man sieht es in ihrem Gesicht, an ihren falten, ihrer verlebten Schönheit. Es sind die Spuren eines Lebens vor Port Mesa, in dem sie mehr düstere Morgengrauen und schlimme Dinge erlebte als die meisten der Garnelenfischer.
    Rachel hat eine Pistole in der Handtasche. Dalton Voy hat sie einmal zufällig gesehen, und ihn überraschte nur, daß er gar nicht erstaunt war. Irgendwie hatte er es geahnt. Irgendwie ahnten es alle. Niemand läuft Rachel nach der Arbeit auf dem Parkplatz hinterher und versucht, sie in sein Auto zu locken. Niemand folgt ihr nach Hause.
    Aber wenn diese Härte nicht in ihrem Blick liegt und ihr Gesicht nicht so abweisend aussieht, ja, dann bringt sie Leben in den Laden. Sie bewegt sich hinter der Theke wie eine Tänzerin; elegant dreht und wendet sie sich, anmutig füllt sie die Gläser. Beim Lachen reißt sie den Mund weit auf, und ihre Augen explodieren, und jeder in der Kneipe versucht schnell, noch einen Witz zu machen, einen besseren, nur um dieses Lachen noch einmal am ganzen Körper zu spüren.
    Und dann ihr kleiner Junge. Ein hübsches blondes Kerlchen. Sieht ihr kein bißchen ähnlich, aber wenn er lacht, dann weiß man, daß er Rachels Sohn ist. Vielleicht ist er auch ein bißchen launisch, so wie sie. Manchmal hat er diesen warnenden Blick, was bei so einem kleinen Kind selten ist. Kann kaum geradeaus gehen, aber sagt der Welt schon seine Meinung: Laß mich in Ruhe.
    Die alte Mrs. Hayley
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