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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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Erstgeborene, sie hatte Erstgeborene und Erstgestorbene. Nach der achten Klasse würde ein Examen folgen.
    »Aber was soll ich denn nur lernen?«, fragte sie sich.
    Sie war sicher, dass sie all ihre Kinder überleben würde.
    In den beiden letzten Jahren blieb Anna Egidia nur Augusta Kathinka, Tante Gusta, wie sie genannt wurde. Eigentlich war sie schwächlich und litt an einem lebenslangen Herzschmerz, seit ihr Verlobter sie sitzen gelassen hatte. Und doch lebte sie, wenngleich auch unverheiratet und kinderlos. Während des Weltkrieges hatte sie sich in Amerika aufgehalten und kehrte trotz Minenfeldern und uneingeschränktem U-Boot-Krieg zurück. Sie wohnte bei ihrer Mutter in dem großen Haus am Strand.
    »Sie hält nicht durch«, dachte Anna Egidia jeden Tag und drückte ihre Hand, ihre Befürchtungen ließ sie sich dennoch nicht anmerken.
    Doch Augusta Kathinka hielt durch, und Anna Egidia schied triumphierend aus dem Leben. »Vielleicht hat es so sein sollen«, dachte sie, »… dass ich lediglich mit einem den Hafen erreiche.«
     
    Als Anna Egidia der Erde und ihrem Kreislauf übergeben wurde, existierte Carl in keiner erkennbaren Form mehr. Aber er existierte. In Millionen Bestandteilen, einige im Schlamm versunken, andere unterwegs von Pol zu Pol auf den langen Routen der ausdauernden Zugvögel. Er war zu Phyloplankton und Zooplankton geworden, er war ein Tiefseeaal in der Zwielichtzone, ein Schlangenstern im Kontinentalgraben, ein Mineral in einer aufsteigenden Meeresströmung, die blinkende Schuppe eines Fliegenden Fisches, der aus dem Schaum einer sich brechenden Woge sprang, er war der Schrei eines Basstölpels in der Luft. Von ihren vielen toten Kindern waren die ersten drei zu jung gewesen, um selbst Kinder zu haben. Die anderen lebten lange genug, um Nachkommen zu zeugen, die schon bald den Tod eines Elternteils erleben mussten. Als Anna Egidia starb, hatte sie vierzehn Enkelkinder. Jedes einzelne hatte sie an der Hand gehalten, wenn eine Mutter oder ein Vater gestorben war. In vielen Häusern wurde sie zum zweiten Gast. Erst kam der Tod, dann sie. Ihr schwarzes Seidenkleid war allmählich zerschlissen. Denn sie kümmerte sich nicht nur um ihre eigene Familie. Sie wurde zur Stütze des gesamten Viertels um die Teglgade. Starb jemand, holte man sie. Sie trat in die Tür, setzte sich ins Wohnzimmer, schickte die Erwachsenen fort und nahm dann die Kinder bei der Hand. Wurde eine Mutter krank und musste ins Krankenhaus, während der Mann auf See war, holte sie die Kinder zu sich nach Haus. Immer wieder wurde sie gebeten, Taufpatin eines Kindes zu werden.
    Sie hatte die Aufgabe übernommen, am Eingang und am Ausgang des Lebens Wache zu stehen.
    Wenn sie nicht dachte, dass es sich bei der Welt um ein sinkendes Schiff handelte, dann hatte sie den entgegengesetzten Gedanken: Das Leben war ein Schiff, das nicht untergehen konnte.
    Der Tod schlich sich bei ihr ein und tippte ihr auf die Schulter. Er holte sie immer wieder ein, und sie konnte ihm nicht davonlaufen. Doch dem Leben gelang es. Das Leben war dem Tod stets einen Schritt voraus.
    Jedes Mal, wenn eines ihrer Kinder starb, sei auch etwas in ihr gestorben, sagte sie, und das entsprach der Wahrheit. Ihr wurde ein Stück ihres Herzens herausgerissen. Aber es entsprach ebenso der Wahrheit, dass die Toten in sie übergingen und ihr etwas von sich zurückgaben. Man riss ihr ein Stück ihres Herzens heraus, aber es wuchs sich wieder aus und wurde größer und weitherziger als zuvor.
     
    Die ersten Monate nach Carls Tod waren von Ungewissheit geprägt. Wie sollte sie allein mit acht Kindern zurechtkommen? Konnte sie das große Haus halten? Im Frühjahr fand in den Ausstellungssälen von Schloss Charlottenborg eine zweitägige Auktion mit Carls hinterlassenen Gemälden und Aquarellen statt. Es handelte sich um einen Überblick über sein gesamtes Lebenswerk. Es gab Schiffe auf der Reede von Marstal, grönländische Hütten, einen Eisbären auf einer treibenden Eisscholle, die Abendstimmung auf dem Atlantik, einen ruhigen Sommermorgen am Sund und Schauerwetter bei Lyø. Es war sein Leben. Es war der Mann, den sie geliebt hatte.
    Der Auktion hatte Anna Egidia mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Sie wusste, dass ihre und der Kinder Zukunft vom Verlauf dieser beiden Tage abhing. Es hatte ihr weh getan, die Gemälde herzugeben. Carls ertrunkenen Körper hatte sie nie gesehen. Nun musste sie sich von seiner Seele verabschieden. Diese Bilder trugen sein Bestes
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