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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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wurde, je tiefer er sank, foss eisig durch die Haut in ihn hinein. Das Licht war jetzt sehr fern. Hoch über ihm erlosch die bleiche, unerreichbare Sonne allmählich.
    Er öffnete den Mund, er wollte Jonas etwas sagen. Stattdessen füllten sich seine Lungen mit Wasser, als wäre das Meer ein neues Element, in dem er lernen sollte, sich zu bewegen. Es wurde schwarz um ihn, eine so intensive Dunkelheit, wie er sie nie zu malen gewagt hätte.

Alles ist vorläufig
     
    A lles ist vorläufig, die Höhe eines Berges, die Kurve einer Küste, die Tiefe des Meeres. Eine Insel entsteht, wird zu einem Werder und wieder zu einer Insel. Das Land hebt und senkt sich. Die Kontinente fießen. Ein Menschenleben ist kurz. Dann verändert es sich wie eine Wolkenformation, von Stratus zu Stratokumulus, von Stratokumulus zu Zirrus, und als die Nachricht von Carls Tod Anna Egidia am Tag nach der Ankunft der Peru in Kopenhagen erreichte, hatte er sich bereits verändert.
    Nicht nur die vielen Lagen seiner Kleider hatten sich aufgelöst. Er selbst hatte verschiedene Stadien durchlaufen. Immer aufgedunsener und unkenntlicher hatte er sich durch kalte und warme Meeresströme tragen lassen. Neue Formen hatte er angenommen, als Robben und Fische, ja, sogar Meeresvögel an ihm nagten, als sein halb aufgelöster Körper im Laufe des Verwesungsprozesses eine Weile an der Oberfäche auftauchte. Niemals war er allein. Die Säugetiere, Fische und Vögel begleiteten ihn. Die Schöpfungen aus der Tiefe des Meeres, von denen er daheim in Marstal die Überreste gesehen hatte – den Sägezahn eines Sägerochens, ein aufgerissenes Haifischmaul, Krabbenscheren, die einem Kind den Arm abkneifen konnten, einen getrockneten Seestern -, lernte er nun auf andere Weise kennen. Er geriet in einen Schwarm blinkender Makrelen, die sich auf ihn stürzten, bevor sie von einem Hai auseinandergejagt wurden, der ihr Werk fortsetzte. Das Skelett trat zutage. Dem Auftrieb seines verwesenden Fleisches beraubt, wurde er wieder schwerer, und sein einstiger Körper, der sich nun in etwas anderes verwandelt hatte, bereitete sich darauf vor, auf den Grund zu sinken, wo die Strömung seine säuberlich abgenagten Knochen weitläufig verteilen würde.
     
    Anna Egidia ging in den Garten und blieb mit dem Telegramm in der Hand stehen. Sie wollte einen Moment allein sein und ihre Gedanken ordnen. Als Erstes ging ihr durch den Kopf: »Jetzt kenne ich mein Schicksal.«
    Anderthalb Monate zuvor war sie sechsundvierzig Jahre alt geworden. Der heutige Tag hatte sie verändert, nun war sie nicht mehr Hausfrau, sondern Witwe. Aber sie war noch immer Mutter. Sie hatte acht Kinder. Sie würde den Rest ihres Lebens für sie da sein. So dachte sie.
    Es war ein Herbsttag, die Sonne stand hoch. Die Blätter des Maulbeerbaums lagen wie ein strahlender Teppich unter ihren Füßen. Sie glättete ihren Rock und atmete tief durch. Dann trat sie ins große Wohnzimmer und rief die Kinder zusammen. Die Kleinen würden weinen, die Großen auch, vor allem Helga und Ellen. Jens Christian würde es eher verschlossen hinnehmen. Er hatte das nervöse Temperament seines Vaters geerbt und wollte wie er Kunstmaler werden.
    Sie wollte mit ihnen weinen. Das würde sie sich gestatten, aber sie würde sich nicht gestatten, sich den Tränen zu ergeben, wie sie sich überhaupt niemals erlaubte, sich irgendeiner inneren Unruhe hinzugeben. Für seelische Tumulte gab es in ihrem Dasein einfach keinen Raum. Ihr Lebensinhalt bestand aus Carl und den acht Kindern, sie brauchte den Raum, um über sie traurig, wütend oder glücklich zu sein. Sie nahm Anteil an allem, was sie betraf. Nun wollte sie mit ihnen weinen, aber nicht so, dass sie meinten, von nun an gäbe es kein Zentrum mehr auf der Welt. Es gab dieses Zentrum nach wie vor. Sie war die Mitte der Welt. Sie war es immer gewesen, und wie alles, was unerschütterlich schien, handelte es sich um einen ständigen Balanceakt. Wäre ihr jemand nahe gekommen, hätte er ihr Zittern bemerkt, aber so nahe kam ihr niemand. Sie kam ihren Kindern nahe, die Kinder nicht ihr. Sie spürten nur die Kraft, die von ihr ausging, ihre allumfassende Ruhe. Anna Egidia hatte Träume, die sie niemandem erzählte. Morgens schüttelte sie diese Träume ab. Nachts konnte sie lautlos in ihr Kissen weinen, doch der Kissenbezug war trocken, bevor der Tag anbrach. Nie hatte sie rote Augen.
    In Marstals engen Gassen hatte sie die Kunst des Weinens gelernt. Hier war der Tod ein häufiger Gast, wenn
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