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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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gepfegt hatte.
    Was hatte er geschrieben? Einen Abschiedsbrief? Aber wenn ja, an wen?
    Carl steckte den Brief in einen Umschlag und ging an Deck. Er zog sein Skizzenbuch heraus und begann die schlaff herunterhängenden Segel zu zeichnen.
    Das Leben musste einfach weitergehen.
    Plötzlich rutschte ihm der Bleistift aus. Als hätte er einen Stoß bekommen, als hätte ihn eine unsichtbare Kraft geschubst. Ein langer, hässlicher Strich zog sich quer über die Zeichnung. Das Skizzenbuch fiel ihm aus dem Schoß und landete mit aufgeklappten Blättern auf dem feuchten Deck.
    Das Gefühl, von jemand beobachtet zu werden, wurde unerträglich. Er hob den Kopf. Abgesehen vom Rudergänger, der seinen Blick ins Rigg gerichtet hielt, war niemand an Deck. Aber Carl spürte eine fremde unsichtbare Anwesenheit, als wäre dem Meer ein Auge erwachsen, das auch die geringste Bewegung noch teilnahmslos verfolgte.
    Eine Weile unternahm er gar nichts. Dann hob er das Skizzenbuch auf und ging unter Deck.
     
E s passierte vierzehn Tage später. Die Peru lag auf einer Position vor den Orkney-Inseln. Carl hielt sich zusammen mit dem Rudergänger allein im Heck des Schiffs auf. Den ganzen Tag über hatte eine gleichmäßige Brise mit Regenschauern geweht, am späten Nachmittag klarte es auf. Die Wellen rollten dickfüssig und ruhig wie Öl dahin.
    Carl trat einen Schritt zurück, um den Entwurf zu betrachten, an dem er seit einigen Tagen arbeitete. Er hatte den Tadel ernst genommen, den er sich selbst nach Beendigung des Briefes an Karla erteilt hatte, und jeden Tag feißig gemalt. Die Arbeit verschaffte ihm keine Befriedigung, hielt aber die Leere auf Distanz. Selbstdisziplin war das Einzige, was ihm blieb.
    Das Bild war aus der Decksperspektive gemalt, mit Aussicht auf den Steven. Nur ein wenig Meer und Himmel waren sichtbar, der Rest verbarg sich hinter dem hohen Schanzkleid und dem Großsegel. Das Rigg verdeckte zusätzlich die Aussicht. Im Steven stand eine schmächtige Figur mit dem Rücken zum Betrachter und suchte den Horizont ab. Die Gestalt sah nicht aus wie ein Seemann an Bord eines Schiffes, eher wie ein Gefangener in einem schwimmenden Gefängnis. Das Bild hatte etwas Eingeschlossenes, geradezu Klaustrophobisches. Kein Effekt, den er beabsichtigt hatte. Er hatte sich ganz von allein eingestellt.
    Es gab eine weitere Figur auf dem Gemälde. Ursprünglich hatte Carl daran gedacht, ein Gegengewicht zu der einsamen, Ausschau haltenden Gestalt im Steven des Schiffs zu schaffen. Zunächst hatte er den Koch skizziert, wie er etwas in eine Pütz schüttete. Unschlüssig hatte er ihn jedoch wieder ausgewischt. Eigentlich wollte er gerade nicht die Arbeitsabläufe an Bord darstellen, aber wie gewöhnlich fiel er zurück in seine alte Routine und begann mit Studien des Volkslebens.
    Carl sah ein, wie wenig er über sein Bild nachgedacht hatte. Er war schlecht gelaunt und daher nachlässig. Und trotzdem schien es, als hätte sich ein schaffender Wille durchgesetzt. Er hatte sich selbst und seine eigene Einsamkeit geschildert. Diese verhärmte, Ausschau haltende Gestalt im Steven war er. Wie immer wurde er vom Leben bedrängt, diesem chaotischen, erschreckenden Leben, das so zudringlich war, so voller unbekannter Kräfte und Ziele. Dennoch gehörte er dazu, egal, wie wenig es seinen Erwartungen entsprach und sich weigerte, seinen ästhetischen Anforderungen Genüge zu leisten.
    Von dem Koch war lediglich ein blasser grauer Fleck geblieben. Es konnte alles Mögliche sein. Ein großes Tier, das aus der Kombüsentür kam, ein mit einem Pelz bekleideter Eskimo. Es zeigte nichts Konkretes, ein unfertiger Fleck auf der Leinwand und gleichzeitig ihr Zentrum, gleichwertig mit dem Selbstporträt im Steven des Schiffs. Dieser graue Fleck konnte alles bedeuten. Doch Carl wusste, was der Fleck in all seiner Unbestimmtheit repräsentierte. Er stand für den blinden Passagier, den man nie gefunden hatte. Es waren die wie auf weichen Pfoten schleichenden Schritte auf der Leiter vor seiner Kajüte. Es war der Stoß, den er bekommen hatte, als er in sein Skizzenbuch zeichnete. Es war das Auge, mit dem das Meer ihn beobachtete. Es war all das Fremde, das sich einen Weg in sein Leben zu bahnen versuchte. Es waren die Spuren der puren, unvermischten Farben, die er als Junge durch den Rinnstein vor Färber Jørgensens Haus hatte fießen sehen und die auf den Leinwänden des französischen Malers zu einem kraftvoll strömenden und – das begriff er jetzt –
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