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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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schwerer zu sein, was möglicherweise an den vielen Schichten von Kleidung lag, die er übereinander trug – als wollte er sich bereits jetzt gegen die arktische Kälte schützen. Auch er reagierte auf die Aufzählung des Zahlmeisters, aber auf eine andere Weise als der Steuermann und die Mannschaft. Er fasste sich an den Bauch, als verursachte ihm die bloße Erwähnung der Speisenfolge, auf die er von nun an viele Monate angewiesen sein würde, bereits Magendrücken.
    Die Sonne stand tief. Das Rigg des Schiffs und die Lagerhäuser am Kai warfen lange Schatten in die Hafeneinfahrt. An den Liegeplätzen entlang der Havnegade wurden zwei englische Dampfer mit Butterfässern und Speckseiten beladen. Ein Viehhirte trieb eine Herde Kühe vorbei, die beim Anblick der hohen Bordwände in den Morgenhimmel muhte. Auf der anderen Seite des Kongens Nytorv erkannte Rasmussen undeutlich das Hauptkontor der Großen Nordischen Telegrafen-Gesellschaft, deren Gebäude nur noch eine Etage bis zur Fertigstellung fehlte. Die Bäume rund um das Reiterstandbild waren noch nicht ausgeschlagen, aber er wusste, dass den Waldboden im Dyrehave schon lange ein blühender Teppich aus Anemonen bedeckte, und in einigen Tagen würden auch die Buchen ergrünen. Er würde es nicht erleben. Obwohl die Peru noch ein paar Stunden am Kai vertäut liegen bleiben sollte, spürte er, dass er Dänemark bereits verlassen hatte und sich in einer fremden Welt befand.
    Er blieb der einzige Passagier an Bord des Schiffs der Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft, der Brigg Peru. Er hatte Bauchschmerzen, und es tröstete ihn nicht, dass es sich auf der Peru um ein den Passagieren und Offizieren vorbehaltenes Privileg handelte, Javakaffee trinken zu dürfen. Carl Rasmussen trank keinen Kaffee.
     
    Gegen acht tauchte der Bugsierdampfer auf. Die Taue wurden losgeworfen und die Peru mitten in die viel befahrene Hafeneinfahrt geschleppt, wo sich Schlepper, Schuten, Prahme und Fährboote aus Nyhavn gegenseitig behinderten. Warnrufe waren zu hören, und kräftige Schiffsschrauben peitschten das dreckige Hafenwasser zu schlammigen Schaumkuchen auf. Überall erhoben sich große Speichergebäude, hinter denen die Kirchtürme der Stadt beinahe verschwanden. Weiter südlich hatte die Knippelsbro ihre eisernen Klappen geöffnet. Zu beiden Seiten der Brücke bildeten sich lange Schlangen von Pferdewagen und Fußgängern. Ein Dampfer steckte in der engen Öffnung fest. Er stieß ein Warnsignal aus, und Rauch quoll stoßweise aus dem hohen schlanken Schornstein, als wollte das Schiff mit Maschinenkraft allein versuchen, sich aus dem Griff des Mauerwerks zu befreien. Metall, das sich auf diese ungleiche Kraftprobe eingelassen hatte, scheuerte und kreischte.
    Ein Baggerschiff arbeitete an der Vertiefung der Hafeneinfahrt. Das große Holzrad wälzte Schlamm und Schlick vom Meeresboden in einen verrotteten Prahm, der aussah, als könnte er jeden Moment unter dem Gewicht des stinkenden Morasts sinken. Dahinter reckte ein Kohlenkran seine schwarze Eisenkonstruktion in die Luft. Ein verbeultes Eisenfass, das gut und gern einen Mann aufnehmen konnte, wurde in die offene Luke einer vertäuten Schute gefiert. Eine Staubwolke stieg aus dem Laderaum auf, als die Kohlentrimmer zu schaufeln begannen. Vom Kai aus liefen schwarzgesichtige Männer mit vollen Schubkarren über schmale, schaukelnde Bretter, die als Gangway dienten. Erst hin, dann zurück, der gleiche Arbeitsablauf, den ganzen Tag lang.
    »Schauen Sie nur, wie sie laufen. Verfuchtes Ameisenleben.«
    Kapitän Thomsen hatte sich neben den einzigen Passagier des Schiffs an die Reling gestellt. Er zog die Tonpfeife aus dem Mund und spuckte ins Wasser. Die Regelmäßigkeit seines runden Kopfs wurde von einem grau melierten Backenbart unterstrichen, der exakt der Linie seines Kiefers folgte, den größten Teil der Wangen und der Mundpartie aber freiließ. Seine kleinen Augen saßen in eingesunkenen Augenhöhlen; ihr prüfender Blick erschien bisweilen stechend.
    »Ich lag mal zum Laden auf dem Jangtse«, ergänzte Thomsen. »In China kannten sie noch keine Schubkarre. Sie trugen ein Joch mit zwei Körben über den Schultern. Aber abgesehen davon ist es das Gleiche.«
    Nachdenklich blickte er auf den Stadtteil Christiansholm.
    »In China laufen sie auch. Die Last ist unmenschlich. Aber sie schleppen sich nicht dahin. Sie setzen nicht vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie rennen. Genau wie diese Halunken dort drüben. Ich
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