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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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in die Person einzuleben, die er porträtiert, aber er muss auch einen Teil von deren Seele in sich aufnehmen, auch wenn es sich nur um einen vorübergehenden Gast handelt. So gesehen, konnte er die Warze nicht weglassen. Denn sie erzählte, dass sich hinter dem wohlkontrollierten Auftreten des Schneidermeisters ein Gefühl der Ohnmacht verbarg: Allen, die wohlhabender und gebildeter waren als er, trat er unterwürfig gegenüber, folglich dem größten Teil seines Kundenkreises. Auch sein Selbstbewusstsein hatte er seinen Kunden als Pfand überlassen. Johan Arenth Rasmussen vertraute nicht seiner eigenen Urteilskraft, sondern hatte stets Angst, gewogen und für zu leicht befunden zu werden.
    In einem Porträt musste Ausgeglichenheit herrschen. Die haarumkränzte Warze war kein Sinnbild der gesamten Persönlichkeit des Schneidermeisters. Die Warze drückte einen Teil davon aus, unter besonderen Umständen vielleicht auch alles – doch wenn ihn niemand bei seinen täglichen Verrichtungen störte, würde die Warze bleiben, was sie war: eine Warze und kein Zeugnis innerer Schwäche.
    Als Carl seinen Vater schließlich mit diesem distanzierten, prüfenden Blick ansah, mit dem Kinder so selten ihre Eltern betrachten – er hoffte inständig, dass seine eigenen Kinder ihn niemals so ansehen würden -, sah er die Warze. Die Warze und nichts als die Warze. Und er wusste genau, dass er seinen Vater niemals würde malen können. Er wünschte sich die Nähe nicht, die ein Porträt erforderte. Entstehen würde ein unausgeglichenes Gemälde, weil es einen Menschen zeigte, der selbst das Gleichgewicht verloren hatte. Und er zögerte nicht, sich eine Tatsache einzugestehen, obwohl er die Worte nie laut ausgesprochen hätte: Es würde ein hässliches Bild werden.
     
    Trotz seiner bescheidenen Größe hatte Ærøskøbing den Rang einer Provinzhauptstadt. In den Straßen wimmelte es von Rentmeistern, Richtern, Zollverwaltern, Konsuln, Assessoren und Winkeladvokaten. Nur wenige verfügten über einen Titel, der gewöhnlichen Menschen verständlich werden ließ, womit sie eigentlich ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Titel repräsentierten die Unergründlichkeit der Macht und der Obrigkeit. Sogar ein Arzt hieß nicht einfach nur Doktor, sondern Doktor physicus. Und selbst wenn man schließlich begriff, womit sie ihr Geld verdienten, gehörten sie doch zu einer höheren, unantastbaren Welt. Ob es sich nun um Kaufeute, Landgutsbesitzer oder Schiffsreeder handelte, in erster Linie galten sie als Familien. ›Die vornehmen Familien der Stadt‹ hieß es – weniger als Hinweis auf ihren Stammbaum denn auf ihre Titel. Nominativ und Genitiv waren vertauscht: Sie gehörten nicht zu den vornehmen Familien der Stadt. Die Stadt gehörte den vornehmen Familien.
    Wenn auch nicht alle Einwohner der Stadt bei ihnen in Lohn und Brot standen, so fehlte doch keiner im Kreis der Bewunderer. Die Seeleute, die sich an der linken Seite der Nørregade drängten, mit Aussicht aufs Meer, hatten auch Familie. So wie der Segelmacher Dauer in der Brogade und der Färber Jørgensen in der Søndergade, aber Familien waren sie dennoch nicht. Sie hatten niemanden, der von ihnen abhängig war. Sie verfügten über keinen Glanz. Ihre Frauen kleideten sich nicht in Krinolinen aus Brokat und Moiré. Sie kannten auch keine Taftmantillen oder Samtmäntel und zeigten sich nie mit Kapotthut und Kinnband.
    Der Schneidermeister Johan Arenth Rasmussen kannte den Glanz. Er lebte, um dazu beizutragen. Auch er hatte Nachkommen, sogar ziemlich viele. Carl war der Älteste in einer Schar von elf Kindern, und es würden ganz sicher noch weitere kommen. Alle sollten sie den Glanz kennenlernen, respektieren und ehren, obwohl niemand von ihnen sich der Hoffnung hingeben konnte, daran je teilzuhaben.
    Rasmussen war ein Mann weniger Worte, es sei denn, er erläuterte Kunden die Vorzüge seiner Schneiderkunst. Jeden Sonntag verabreichte er seinen Kindern eine Tracht Prügel. Eine Präsentation seiner Kraft, bei der er das Bild einer schwächlichen Muskulatur, die man normalerweise mit dem Schneiderhandwerk verbindet, Lügen strafte. Nur der Letztgeborene, der noch auf dem Arm seiner Mutter saß, blieb von der Züchtigung ausgenommen.
    Der Schneidermeister tat dies ohne Leidenschaft oder Zorn, sondern als Vorbereitung auf die Unbilden des Lebens und als stete Einübung in die notwendige Disziplin, nicht von der rechten Bahn abzuweichen. Seiner Meinung nach lauerten den Nachkommen
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