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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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Grenzland, in dem das Leben standhielt.
    Zum ersten Mal verstand er die Nordländer, die Wikinger, die sich hier vor tausend Jahren unter Erik dem Roten niedergelassen und Hunderte von Jahren ausgehalten hatten, bevor sie wieder verschwanden. Die Wiesen hatten sie gerufen. Sie waren nicht gekommen, um sich als Herren über ein fremdes Volk zu erheben, sondern um dem Griff des Eises einen Rest noch fruchtbarer Erde abzuringen. Sie hatten auf Seiten der Butterblumen gestanden.
    Sofort entschloss er sich, ein Bild von der Ankunft Erik des Roten in Grönland zu malen. Grönlands Entdecker sollte rote Streifen in die Segel bekommen, rot wie der Heideteppich, rot wie das Laub der Zwergbirken im Herbst, rot wie das Herz, das trotz des eisigen Würgegriffs schlug.
     
    In Julianehåb, wo das Schiff einen Zwischenstopp eingelegt hatte, bat er, nach Hvalsø übergesetzt zu werden. Hier, in einer kleinen Bucht, stand die am besten erhaltene Kirche der Nordländer. Man hatte ihm erzählt, dass am Ende des nahen Einarsfjords Gadar sich die größte Siedlung der Nordländer befunden hatte: Mit einem Dom, dem Bischofssitz und Ställen, die so groß waren, dass Hunderte von Kühen dort untergestellt werden konnten. Wenn die erzene Glocke des Doms schlug, hatte man das Echo bis zur Mündung des tiefen Fjords hören können. Jetzt lag die Glocke nach einem vernichtenden Brand zerbrochen im Erlengebüsch. Von dem großen Gebäudekomplex war als Motiv für einen Maler nicht genug stehengeblieben, nur unregelmäßige Überreste aus Stein, die für einen Archäologen durchaus interessant sein könnten, aber auf der Leinwand nichts hergeben würden.
    Was vom rauen Klima nicht zerstört war, hatten die Eskimos fortgeschleppt. Sie bauten daraus ihre trostlosen Steinhütten mit den langen röhrenförmigen Eingängen, die sie gegen die Kälte schützen sollten – offensichtliche Nachbildungen ihrer Schneehäuser am Pol.
    Nach Gadar wollte er nicht. Von Julianehåb aus wäre die Reise zu weit, außerdem fürchtete er, dass die Ausbeute in keinem Verhältnis zu den Anstrengungen stehen würde.
    Aber die Mauern der Kirche auf Hvalsø standen noch.
     
    Carl wurde ein lokaler Führer zur Verfügung gestellt, der ihn den langen Weg durch den Hvalsøfjord rudern sollte. Ein kräftiger Mann mit einem zerfurchten Gesicht. Carl hielt ihn für einen Mann in den mittleren Jahren; doch das drahtige Haar, das ihm fach wie ein Helm auf dem Kopf saß, glänzte ebenso blauschwarz wie sein dichter Schnurrbart. Er hieß Jonas und sprach kein Wort Dänisch. Er lächelte freundlich und umgänglich, übertrieb seinen Diensteifer beinahe und protestierte mit vielen unverständlichen Worten, als Carl sich neben ihn auf die Ducht setzte, um seinen Teil der Arbeit an den schweren Rudern zu übernehmen. Schon bald indes fanden sie zu einem gemeinsamen Rhythmus. Beide waren ordentliche Ruderer, und das Boot schoss mit guter Fahrt durch das dunkelblaue Wasser.
    Es war um die Mittagszeit. Die Sonne brannte und Carl spürte den Durst. Sie hatten Proviant mitgenommen, aber nirgendwo sah er eine Flasche Wasser. Jonas beugte sich über die Reling und trank aus dem Meer. Carl sah ihn verblüfft an. War der Mann wahnsinnig? Jonas lachte und forderte ihn auf, das Gleiche zu tun.
    Carl dachte, es handele sich um einen Scherz, den er sich mit dem unwissenden Dänen erlauben wollte, aber nach kurzem Zögern lehnte er sich hinaus. Er formte mit den Händen eine Schale und trank. Das Wasser schmeckte überhaupt nicht salzig, es war süß und erfrischend. Zunächst verstand er es nicht. Sie befanden sich doch mitten auf dem Meer und nicht auf irgendeinem Binnensee. Dann begriff er und lachte laut auf. Er empfand eine kindliche Freude über seine Entdeckung. Das frische Schmelzwasser der großen Gletscher hatte sich über das schwere Salzwasser gelegt. So musste es sein, sie ruderten auf einem Süßwassersee von möglicherweise nur einem halben Meter Tiefe. Einen festen Grund hatte dieser See nicht. Wie ein Holzprahm schwamm er über die unbarmherzige Tiefe des salzigen Meeres.
    Die Kirche stand dicht am Ufer, mit der Längsseite zum Fjord. In den Bächen, die überall von den Felsen herabstürzten, funkelte es und Treibeis beleuchtete das dunkle Wasser der kleinen Bucht. Ein pyramidenförmiges Felsmassiv, allerdings größer als jede Pyramide, die selbst der mächtigste Pharao hätte bauen können, türmte sich hinter der Kirche auf. Als hätte die schadenfrohe Natur diese
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