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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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Kriegsheld unterrichten lassen, dem Postmeister Kaffka?«
    Carl wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich hing in der Kirche das Bild des Postmeisters von der Grablegung Jesu. Er gehörte zu den Vornehmen in der Stadt. Vielleicht war es besser, überhaupt nicht zu antworten.
    »Mir gegenüber kannst du ehrlich sein. Na, was sagst du?«
    Carl schluckte. Hinrichsen war geradeheraus. Ihm gegenüber durfte man sicher nicht lügen. Und hatte er nicht auch einen Hauch von Ironie gehört, als Hinrichsen Kaffka erwähnte?
    »Er kann überhaupt nicht malen«, sagte Carl mit leiser Stimme, die so gar nicht zu dem Kategorischen seiner Aussage passte.
    Es kostete ihn Überwindung, seine Meinung zu sagen. In der Gesellschaft Erwachsener war er es nicht gewohnt. Er senkte den Kopf, als hätte er mit seinen Worten eine Grenze überschritten, und wartete nun darauf, dass eine Kleiderbürste mit dem üblichen lauten Klatschen sein Hinterteil traf.
    »Kunstkenner bist du auch?«
    Hinrichsen lachte anerkennend und zwinkerte.
    Dann drehte er sich auf dem Absatz um.
    »Ich muss los«, erklärte er. »Eile, Eile, immer in Eile.«
    Er stürmte die Treppe hinunter und summte dabei ein paar Worte auf eine Melodie, die sich anhörte, als hätte er sie sich selbst ausgedacht.
    » Dies fette, phlegmatische Erdenleben,
in dem alle nur nach Realem streben.«
    »Wenn der wüsste«, unterbrach er sich, als würde er den Urheber der Worte zurechtsetzen, wer immer es auch war. Er selbst konnte jedenfalls nicht gemeint sein. Wenn Hinrichsen etwas nicht war, dann ein Phlegmatiker.
    An der Haustür blieb er stehen und drehte sich zu Carl um.
    »Heiberg«, sagte er. » Eine Seele nach dem Tod. Ich leih dir das Buch, wenn du das nächste Mal zu Besuch kommst.«
    Mahnend hob er den Zeigefinger und zwinkerte Carl zu, der die Treppe fast bewältigt hatte und auf der vorletzten Stufe stand.
    »Du sollst Maler werden. Ich rede in den nächsten Tagen mit deinem Vater.«
    Eigentlich klang diese Ankündigung wie ein Versprechen; doch es lag eine Selbstsicherheit im Tonfall, die Carl verstehen ließ, dass es sich in Wahrheit um einen Befehl handelte. Seine Zukunft hatte sich entschieden.
    Hinrichsen eilte aus der Tür und verschwand im Galopp in Richtung Markt. Die Zukunft so vieler Menschen war von seinen Entscheidungen abhängig.
    Das Dienstmädchen ließ Carl hinaus. Sie blickte ihn schelmisch an, als würden alle, die in die Nähe des Hausherrn kamen, ein Geheimnis teilen.
    »Dieser Hinrichsen«, sagte sie.
     
    Überwältigt lief Carl durch die Straßen. Die Zukunft hatte wie ein Blitz eingeschlagen und seine Fantasie entfacht. Maler – er hatte es nie gewagt, diesen Gedanken zu denken. Was würde sein Vater sagen? Diese Frage brauchte er sich nicht zu stellen. Kam die Idee von Hinrichsen, würde sein Vater keine Einwände haben, obwohl das freischwebende Leben eines Malers im Grunde eine Revolte gegen sämtliche Überzeugungen war, für die der Schneidermeister eintrat. Nun erhielt sein Sohn jedoch einen Teil des Glanzes, dieses Glanzes, den das Nachbarhaus jeden Abend ausstrahlte und in dessen äußerem Kreis Johan Arenth Rasmussen sein Leben verbracht hatte. Carl war in die erste Etage eingeladen worden. Auch sein Vater hatte sich dort schon aufgehalten, allerdings mit dem Maßband in der Hand und dem Mund voller Stecknadeln. Carl wurde wie ein Gleichgestellter behandelt. Er diskutierte mit Hinrichsen die aktuelle Literatur, und eines Tages würde ein Gemälde, das seine Signatur trug, über dem schweren Sofa hängen. Er legte jede Bescheidenheit ab und gab sich seinen Träumen hin.
    In der Søndergade kam er an Jørgensens Färberei vorbei. In der Mitte der Straße foss das Abwasser der Färberei im Rinnstein – ein glimmendes Kobaltblau, intensiver als das wolkenfreie Himmelszelt an einem der farbenklarsten Septembertage, und dann ein Currygelb, so scharf, dass es sich ebenfalls nicht in der Natur finden lassen würde. Ein paar Meter fossen die Farben nebeneinander, bevor sie sich mischten und zu einem Grün wurden, das inmitten des grauen Straßenpfasters und der blassen Pastellfarben der Hausmauern die Augen nadelte. Als hätte die alltägliche Realität einen Riss bekommen und aus einer bisher verborgenen Quelle sprudelte ein Strom ungezähmter Farben. Vor Carls Blick fimmerte es. Ein Schrecken durchzuckte ihn und gleichzeitig empfand er eine Sehnsucht, die so unbezähmbar war wie die beißenden Farben. Dies waren die Grundstoffe, auf denen
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