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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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Auflagen. Im vergangenen Jahr war der Ausbau des Jachthafens abgeschlossen worden. Es gab Duschen, Toiletten und einen Waschsalon für die Jachtbesitzer.
    Helma Ward hatte das Clamshell Motel übernommen und es mithilfe ihres Sohnes renovieren lassen. Die Investition hatte sich gelohnt, Touristen, Wissenschaftler und Bootsbesitzer nutzten gerne die sauberen und hübsch gestalteten Unterkünfte.
    Die Öffnung von Neah Bay für den Tourismus war vor drei Jahren auf einer öffentlichen Versammlung mit geringer Mehrheit entschieden worden. Die Makah wollten ihre Traditionen wahren, aber nicht in der Vergangenheit stecken bleiben. Der Beschluss änderte allerdings nur wenig an der Auffassung einiger Traditionalisten, dass Fremde im Ort und an den Stränden nichts zu suchen hatten.
    Oren Hunter war sich noch nicht sicher, auf welcher Seite er wirklich stand. Als Polizeichef von Neah Bay war er verantwortlich für Gesetz und Ordnung. Aber er stammte auch aus einer angesehenen Familie, deren Mitglieder die alten Bräuche wahrten und lebendig hielten. Tradition und Fortschritt schienen hier, am Ende der Welt, unvereinbar.
    War es richtig, am Alten festzuhalten, um es zu bewahren, oder war es besser, es loszulassen, um etwas Neues daraus zu machen?
    Mit dem Daumen fuhr Hunter über eine Schnittstelle am Holz und bückte sich tiefer, um diesen Teil des Geländers näher zu untersuchen. Kopfschüttelnd richtete er sich wieder auf.
    Ja, hier stimmte etwas nicht. Das Ganze war kein Unfall gewesen. Jemand hatte das neue Geländer präpariert, sodass es unter dem Gewicht eines Körpers nachgeben musste. Jemand hatte den Tod eines Menschen in Kauf genommen, vielleicht sogar geplant.
    Hunter straffte die Schultern. Ärger hin oder her – es war sein Job, denjenigen zu finden und dafür einzusperren.
    »Was macht dein Onkel denn da?«, fragte Grace Allabush, die – verborgen hinter einem Strauch – neben Joey Hunter hockte und den Polizeichef vom Rand der gegenüberliegenden Steilküste aus beobachtete.
    »Keine Ahnung«, Joey zuckte mit den Achseln. »Sieht so aus, als ob das Geländer kaputtgegangen wäre.«
    »Aber das ist doch erst ein paar Wochen alt.«
    »Na ja, ich nehme an, aus diesem Grund ist mein Onkel da.«
    Grace Allabush warf ihrem Freund einen Blick zu. Er war ein gut aussehender Junge mit feinen Gesichtszügen und klugen Augen. Sie waren so schwarz wie sein Haar, das er schulterlang trug, um zu zeigen, dass die alten Bräuche ihm etwas bedeuteten.
    Doch der siebzehnjährige Neffe des Polizeichefs war keiner von diesen Eiferern, die am liebsten die alten Zeiten zurückholen würden. Joey ging auf die Highschool. Er war zwei Klassenstufen über ihr und Grace wusste, dass er das Lernen sehr ernst nahm. Er wollte studieren und später Anwalt werden.
    Letzteres imponierte Grace. Aber viel wichtiger war ihr, dass Joey nach dem Studium hierher zurückkommen wollte, nach Neah Bay, wo er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
    Sie hatte sich in ihn verliebt, weil er anders war als die meisten Jungs im Ort. Er war kein Schwätzer, kein Angeber. Von Alkohol und Drogen hielt er sich fern, sonst hätte sie sich gar nicht erst mit ihm eingelassen. Joey Hunter war klug, fair und ernst. Ein bisschen zu ernst, wie sie manchmal fand.
    Grace kannte all seine Geheimnisse und er ihre. Beide trugen eine Bürde aus der Vergangenheit mit sich herum, aus einer Zeit, in der sie noch gar nicht geboren waren. Seit drei Monaten waren sie nun schon zusammen, aber weder Joeys Mutter noch Grace’ Urgroßmutter Gertrude wussten etwas davon. Grace fürchtete, ihre Granny könne etwas gegen Joey Hunter haben. Das hatte etwas mit den alten Regeln ihres Volkes zu tun. Mit einem Teil der Vergangenheit, dessen Existenz sie am liebsten leugnen würde.
    Ihre Granny hatte ihr oft von den alten Zeiten erzählt, in denen das Volk der Makah sich noch in drei Klassen teilte: die Ranghohen, die Gemeinen und die Sklaven. Die Familien der Walhäuptlinge und Schnitzkünstler waren von hohem Rang. Erstere, weil sie mit dem Walfleisch für das Überleben der Familien sorgten, und die Holzschnitzer, weil sie wussten, wie die Tiere und Geistwesen auf den Wappenpfählen dargestellt werden mussten, damit sie vom Ruhm der Ahnen berichten konnten.
    Die einfachen Leute waren Jäger und Fischer. Ihre Namen waren nicht über die Dorfgrenzen hinaus bekannt und sie waren nicht wohlhabend genug, um eigene Potlatches auszurichten.
    Die auf den Kriegszügen erbeuteten
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